Von Aufguss zu Aufguss

„Tee: mittels Aufguss getrockneter Blätter des gleichnamigen Strauchs bereitetes Warmgetränk“. Längst ist Tee mehr als das – vor allem der grüne Tee. Annäherungen an ein Kultgetränk

von MARITA ODIA

Es herrscht andächtige Stille im Raum. Zwanzig hoch konzentrierte Degustatoren betrachten die Gläser. Ihre Aufmerksamkeit gilt Geruch, Farbe und Geschmacksverlauf des Getränks auf der Zunge. Für Weinkenner sind die Aromen ungewöhnlich: Alge, Spinat, frisch geschnittenes Gras. Kein Wunder, das Getränk wird weder gekeltert noch gelagert oder dekantiert. Es handelt sich um kostbare chinesische Grüntees. Ein Vergleich von Tee mit Wein liegt nahe. Auch der Tee – früher der Trunk blasser lustfeindlicher Asketen – hat sich zum Genussobjekt gemausert. Besonders Grüntee steht hoch im Kurs.

Teegebrauch in China ist seit 2700 vor Christus dokumentiert. Der gebrühte Blättertee, wie wir ihn heute kennen, entstand erst während der Mingdynastie (14. bis 17. Jahrhundert). Im 16. Jahrhundert kam der erste Tee aus getrockneten Blättern nach Europa. 1648 erschien in Paris das erste medizinische Teetraktat, und zwar für Grüntee. Ab 1655 bezog England Direktimporte aus Ostindien. Tee trinken wurde zur feinen Sitte – nicht ohne die Proteste derjenigen, die darin ein Werk des Satans sahen.

Die Teeverarbeitung war damals in Europa unbekannt. Die traditionelle chinesische Verarbeitungsmethode sorgt für eine Trocknung, bei der die ursprüngliche Blattfarbe erhalten wird. Bricht man die frischen grünen Teeblätter, treten Tannine (Gerbstoffe) aus, der Fermentationsprozess beginnt – die Blätter werden langsam schwarz. Die marktbeherrschenden Schwarzteeimporte der Engländer aus den indischen Kolonien haben den grünen Tee lange vom europäischen Markt verdrängt. Das hat sich inzwischen geändert. Spätestens seit die helle Variante als potenter Krebsschutz identifiziert wurde, gibt’s kein Halten mehr. Grüner Tee ist das Getränk der letzten Jahre – nicht nur für Gesundheitsapostel. Sieht gut aus, schmeckt gut, tut gut.

China ist heute nach Indien zweitgrößter Teeanbauer der Welt. Der Grüntee aus unserer Verkostung stammt aus der Provinz Zhajiang (südlich von Schanghai) von der Bioteefarm Jinshou in Wuyi. Zhajiang ist für sein Bergland bekannt. Genau wie der Wein gedeiht auch Tee besonders gut in Steillagen, die für eine intensivere Sonneneinstrahlung sorgen. Der Teeanbau verstärkt allerdings die Erosionsgefahr an den Hängen. In Wuyi begegnet man dieser Problematik mit einer Umstellung der Anbaufläche auf ökologischen Landbau. Außerdem erhofft man sich vom Ökoanbau eine Verbesserung der Vermarktungsmöglichkeiten in Europa. Die Teepflanze ist zäh, anpassungsfähig, pflegeleicht. Sie braucht wie die Rebe mindestens drei Jahre Wachstum, bis sie Ertrag bringt. Tee- und Weinanbau denkt man in Generationen.

Neben Anbau, Klima und Boden spielt der Faktor Mensch in der Teeverarbeitung ähnlich wie beim Wein die entscheidende Rolle. Nur eine besondere handwerkliche Sorgfalt bei Trocknung und Verarbeitung garantiert beste Teequalität. Für die chinesische Teespezialität Lung Ching („Drachenbrunnen“, im 18. Jahrhundert zum „Tee des Kaisers“ geadelt) wird in Wuyi nur das oberste zarte Blatt mit der Knospe gepflückt.

Eine Pflückerin erntet im April sechs Kilo frischen Tee am Tag. Die Teeblätter welken einige Stunden auf großen Bambusmatten. Dabei verlieren sie dreißig Prozent ihres ursprünglichen Gewichts. Im nächsten Schritt trocknet der Tee in elektrisch geheizten Wokpfannen, daher auch sein leichtes Raucharoma. Die Blätter werden von Hand an 170 Grad heiße Pfannenwände gedrückt. Laien würden sich an den Woks sofort die Finger verbrennen. In der Jinshan-Teefabrik arbeiten zwölf Mitarbeiterinnen an ebenso vielen Woks. In immer gleichen Handbewegungen pressen und lockern sie den Tee, bis er den richtigen Trocknungsgrad erreicht.

Die Art der Handbewegung formt den Tee und bestimmt, wie das fertige Blatt aussieht: Lung Ching hat flache getrocknete Blätter, andere Sorten werden zu kleinen Spiralen (Pi Lo Chun – zu deutsch „Jadespirale des Frühlings“) oder zu geschwungenen Linien (Ming Mee – „liebliche Augenbraue“) gepresst. Dieser Vorgang dauert achtzehn Minuten und ergibt aus 250 Gramm frischen Blättern fünfzig Gramm fertigen Tee. Inklusive Pflücken braucht es vierzehn Stunden Arbeitszeit, um ein Kilo Lung Ching herzustellen.

Grüntee erlebt nicht nur in Deutschland einen Boom. Wegen seiner gesundheitlichen Wirkung ist er im Wellnesszeitalter beinahe zum Kultgetränk geworden. Er gilt als Tausendsassa bei Alltagsbeschwerden, außerdem ist seine Wirkung bei den Zivilisationskrankheiten nachgewiesen. Er senkt Blutdruck, Cholesterinspiegel und gilt sogar als Metastasenhemmer.

Beim Tee sind ähnliche Stoffe wie beim Wein für gesundheitliche Effekte und den Geschmack verantwortlich: die Polyphenole. Beim Wein sitzen sie vor allem in der Traubenschale. Beim Grüntee machen sie rund ein Viertel aller Wirkstoffe aus und sind in den kostbaren Pflückungen von Knospe und erstem Blattpaar in besonders hoher Konzentration vorhanden.

Teetrinker kennen die berauschende Wirkung von starkem Tee. Das Teein, ein potentes Alkaloid, ist dafür verantwortlich. Auch Grüntee verursacht, wenn er zu hoch dosiert wird, Herzklopfen. Ultrastarker Tee wird von den Marathonkartenspielern in türkischen Cafés getrunken. Aber auch von den Insassen polnischer Gefängnisse wird berichtet, dass sie, wenn Wodka nicht zu haben ist, eine Brutalodröhnung Tee schlürfen, die im Verhältnis eins zu eins mit Wasser gebrüht wird. Auch für Tee gilt: Erst die Dosis macht’s.

Teetrinker gelten als sinnende, meist am Schreibtisch sitzende, sanfte und gesunde Menschen. Doch inzwischen drucken die Feinschmeckermagazine Degustationseindrücke von Tees und laden zur Blindprobe. Dazu passt der Kult um die richtige Tasse, der in China vom dichtenden Teegott Lü Yü im achten Jahrhundert einen ersten Höhepunkt fand. Lü Yü beschrieb in einem Standardwerk über chinesische Teekultur auch die passenden Geräte. Er empfahl blaue Teeschalen. Erst fünfhundert Jahre später, zu Ende des 13. Jahrhunderts, erfanden die Chinesen das weiße Porzellan für ihr Lieblingsgetränk.

Ein ausgetrunkenes Weinglas ist unwiederbringlich leer, beim Grüntee lässt sich der Genuss verlängern – vergleicht man Tee und Wein, muss man diesen entscheidenden Vorteil des Grüntees erwähnen. Bekanntlich sind der zweite und dritte Aufguss der Blätter mindestens genau so gut und bieten noch einige geschmackliche und farbliche Varianten. Jeder Aufguss hat seine eigene Qualität: Der zweite gilt als der genüsslichste, während der erste manchmal despektierlich als „Waschung“ bezeichet wird.

Auf jeden Fall ist es ein sinnliches Vergnügen, wie der Grüntee mit jedem Aufguss neue Farben, Aromen und Geschmacksrichtungen zeigt.

MARITA ODIA, 37, ist PR-Beraterin und Vorstandsmitglied bei Slow Food Deutschland