Direkt ins Auge

Mit ihrem Blick auf die Sensationen und Abgünde des Alltags wurde die belgische Regisseurin Chantal Akerman zu einer der wichtigsten Autorenfilmerinnen Europas. Das Arsenal widmet ihr eine fast vollständige Retrospektive

In Chantal Akermans erstem Film, „Saute ma ville“, von 1968 gibt es diese kurzen, anscheinend unabsichtlichen Blick in die Kamera: Große, überraschend helle Augen blitzen unter einem dunklen Haarschopf hervor und irritieren. Man spürt, dass hier keine Schauspielerin auf Anweisung der Regie agiert, sondern eine Autorin am Werk ist, der man in ihren Filmen auf sehr direkte Weise begegnen kann. Eine Retrospektive auf das Werk der belgischen Regisseurin besitzt deshalb besonderen Reiz: Nicht nur dass sich beobachten lässt, wie diese Frau über mittlerweile drei Jahrzehnte hinweg dem praktischen Kurzhaarschnitt die Treue hält und sich auch sonst kaum verändert hat, mehr noch, man nimmt freundschaftlichen Kontakt auf zu ihr und lernt, die Welt aus ihrer Perspektive zu betrachten.

Wie gesagt, handelt es sich dabei um eher irritierende Einblicke. In „Saute ma ville“ sehen wir, wie die von der damals 18-jährigen Akerman gespielte Frau eine Wohnung betritt, sich in der Küche einschließt, die Tür hektisch mit Isolierband verklebt, Spagetti kocht, den Schrank ausräumt, den Boden wischt. „Laa, lala, lala“, singt die Stimme auf der Tonspur, Gelassenheit mimend, aber mit unterschwelliger Aggression schmiert sich die junge Frau vor der Kamera die Schuhkrem auf die Beine statt auf die Stiefel und zieht sinnlos das Küchengeschirr von den Regalen. Schließlich setzt sie ein Papier in Brand und dreht das Gas auf.

„Saute ma ville“ ist ein guter Einstieg in das Werk Akermans, weil sich in diesem Kurzfilm viele Themen andeuten, die in späteren Filmen ausgeführt werden, und weil sich beobachten lässt, wie sie Figuren baut – nicht als Verkörperungen, die das nachempfinden, was die Erzählung vorschreibt, sondern als Körper, die sich nach ihren eigenen Gesetzen durch Zeit und Raum bewegen. Wie eine Person einen Apfel isst, wird in Akermans Filmen zum Statement.

Durch all ihre Filme zieht sich das Interesse an den Sensationen des Alltags, an dessen Abgründigkeit. Im Hintergrund sind sie immer da: Die verstellten Flure, die gemusterten Tapeten rahmen das Leben ein. Zum Beispiel das von Jeanne in „Jeanne Dielmann, 23 quai du commerce, 1080 Bruxelles“, dem mit über drei Stunden längsten und vielleicht bekanntesten Film Akermans. Vor der Kamera laufen drei Tage im Leben der jungen Witwe ab, die als brave Hausfrau einkauft, putzt, sich prostituiert und ihren Sohn versorgt; ein Leben, das aus der bloßen Aneinanderreihung von Handgriffen besteht, aus unermüdlicher Tätigkeit, die zu keinem Ziel führt. Irritationen haben in diesem Ablauf verheerende Folgen.

Von der sozialkritischen Haltung der „kitchen sink“-Filme sind Akermans Betrachtungen jedoch weit entfernt, genau wie der plakative Feminismus es mit dieser „Frauenfilmerin“ nicht leicht hat. Die Realität ist bei ihr eine persönliche, intime Konstruktion, die kaum in politische Strukturen zu fassen ist. Ob die skandalträchtige Sexszene zweier Frauen (eine davon von ihr selbst gespielt) in „Je tu il elle“ (1974) oder die Wurzellosigkeit der jüdischen Nachkriegsgeneration, wie sie in „Les Rendez-vous d’Anna“ (1978) vorkommt – der Fokus richtet sich nicht auf die gesellschaftliche Relevanz eines Themas, sondern auf die individuelle Erfahrung damit.

In mittlerweile über 30 Filmen wechselte Akerman sehr häufig zwischen Genre und Motiven, drehte Kurz- und Lang-, Dokumentar- und Spielfilme fürs Kino und fürs Fernsehen und sogar einen „echten“ Hollywoodstreifen – vielleicht mit Ausnahme des Letzteren hat sie sich durch alle Filme hindurch eine eigene Handschrift bewahrt, ein Umgang mit Zeit im Film, zu dem sie sich Anfang der 70er-Jahre von Jonas Mekas und Michael Snow hat inspirieren lassen. Starre Einstellungen, in denen es immer etwas zu sehen gibt, was beobachtet und nicht inszeniert ist, im Wechsel mit ruhigen Kamerafahrten, die den Blick stets zur Seite wenden, manchmal zurück, aber so gut wie nie nach vorn; zur Seite und zurück – das ist der Modus der Reflexion.

So trennen Filme wie „D’Est“ und „News from home“ zwanzig Jahre, aber die Stilprinzipien sind auf verblüffende Weise noch dieselben. Bei „D’Est“ (1993) handelt es sich um eine Reise in den Osten Europas. Der Film kommt einer Ansichtskartensammlung gleich, es wechseln die Jahreszeiten und die Orte, die sich in den Details der Bilder identifizieren lassen: Solche Kleider, solche Einkaufstaschen, solche Mützen trägt man dort. Aufnahmen aus Wohnungen werden von Straßenaufnahmen unterbrochen. Sorgfältig wird jedes Bild kadriert, wodurch eine in Dokumentationen sonst ungewohnte Ruhe und Gelassenheit eintritt, die die Menschen vor der Kamera genauso zu ergreifen scheint wie uns Zuschauer.

In „News from home“ aus dem Jahr 1976 zeigt Akerman in ähnlicher Weise Ansichten aus New York und liest dazu aus dem Off Briefe ihrer Mutter vor, besorgte Briefe, voll Verständnis für die Tochter in der Fremde und zugleich ganz unbedarft. Zu sehen sind zunächst Aufnahmen von unbekannten Häuserecken, Kreuzungen, die Subway, und schließlich die ersten Fahrten, der Blick natürlich immer die Häuserzeilen entlang, gen Ende auch aus der Hochbahn gefilmt, eine nachvollzogene Eroberung, wie sie jeder kennt, der in eine fremde Stadt zieht: Was zuerst aus unwirtlichen Ecken besteht, setzt sich erst allmählich zum Ort zusammen, den man auf Postkarten wiedererkennt.

Am Schluss von „News from home“ steht die zehnminütige Bootsfahrt von Manhattan weg, das allmählich als Insel (mit WTC) ganz ins Bild kommt, um dann vom Nebel wieder verschlungen zu werden. Mit dieser Fahrt, das ist das Schöne an Retrospektiven, korrespondiert die Schlusssequenz von Akermans neuestem Film, „La Captive“, nach Proust. Nachdem die von der Jugend der Schauspieler verfremdete Geschichte einer Obsession ihr Ende findet, fährt in der letzten Einstellung ein Boot lange auf den Strand und damit auf die Kamera zu – bis wir Simon, dem Hauptdarsteller, in die Augen blicken.

BARBARA SCHWEIZERHOF

„Retrospektive Chantal Akerman“ bis Mitte Januar im Arsenal, Potsdamer Straße 2, Tiergarten