Enron hat sich verspekuliert

Der größte Energiehändler der Welt scheitert vermutlich an Börsengeschäften mit riskanten Wertpapieren. Konzern stellt Stromlieferungen ein. Konkursantrag erwartet

BERLIN taz ■ Die größte Firmenpleite in der Geschichte der USA lässt sich wohl nicht mehr abwenden. Der weltweit größte Strom- und Gashändler, die im texanischen Houston ansässige Firma Enron, hat gestern seine europäischen Großhandelsgeschäfte eingestellt. „Wir sind überall auf dem Kontinent auf null“, sagte ein Enron-Vertreter in London.

Am Stromhandel in Deutschland hielt der US-Konzern etwa 30 Prozent. Die Lieferungen werden jetzt von Konkurrenzunternehmen abgewickelt. Auf dem Gasmarkt sieht es ähnlich aus. In der Nacht zu Samstag wollte Enron zum Beispiel die Gaslieferung an die niedersächsische Stadt Peine einstellen. Auch hier sprangen andere Lieferanten ein. Banken müssen jetzt wohl Kredite von mehreren Milliarden Dollar abschreiben. Mit dabei ist die Deutsche Bank, die rund 100 Millionen verlieren könnte.

Für Enron arbeiten weltweit etwa 21.000 Beschäftigte. In Europa sind es gut 5.400. Viele werden wohl ihre Jobs verlieren. Mit dem Konkursantrag in den USA wird für den Beginn kommender Woche gerechnet. Enron verfügt noch über Vemögenswerte in Höhe von rund 60 Milliarden Dollar. Die bis dato größte Pleite in den USA betraf 1987 den Texaco-Konzern mit einem Vermögensumfang von 35 Milliarden Dollar.

Der Zusammenbruch des Konzerns war kaum noch zu verhindern, nachdem am vergangenen Mittwoch das US-Unternehmen Dynegy, hinter dem der Mineralölkonzern Chevron steht, seine geplante Fusion mit Enron abgesagt hatte. Abgeordnete im US-Kongress organisieren jetzt Anhörungen, um in Erfahrung zu bringen, warum ein so großes Unternehmen so plötzlich in die Knie geht. Bis vor kurzem galt Enron als Top-Unternehmen und erste Adresse für Aktienkäufer. Jetzt scheint der Konzern schlicht überschuldet zu sein. Man spricht von offenen Verbindlichkeiten in Höhe von 20 Milliarden US-Dollar, die der Konzern offenbar aus eigener Kraft nicht aufbringen kann.

Einen Hintergrund für die Pleite bildet die Deregulierung des Energiemarktes in den USA. Kunden können sich seit einigen Jahren bei konkurrierenden Versorgern eindecken und sind nicht mehr auf einen Monopolanbieter beschränkt. Enron stieg ganz groß in den Stromhandel ein und entwickelte Finanzmarktderivate, die auf Energie basieren.

An den Börsen kann man seitdem Wertpapiere erwerben, die zum Beispiel das Recht einräumen, in zwei Monaten eine bestimmte Strommenge zu einem festgesetzten Preis zu kaufen. Wenn die Energiepreise stärker schwanken als vorhergesehen, können sich auch Spezialisten mit derartigen Optionen herbe verspekulieren. Das ist offenbar bei Enron geschehen. Die genauen Ursachen herauszufinden, wird vermutlich Monate dauern.

Insofern ist die Pleite vergleichbar mit dem folgenschweren Zusammenbruch des Fonds Long Term Capital Management (LTCM) 1998, der sich mit risikoreichen Geldgeschäften verkalkuliert hatte.

Nach einer Schrecksekunde am Donnerstag hatte der Enron-Absturz gestern keine großen negativen Auswirkungen auf die Wirtschaft. Die Aktienwerte an der Wall Street zogen nach oben, und der Dax machte es dem US-Vorbild nach. HANNES KOCH