Unterwegs im Revier der Warlords

Kommandanten der Nordallianz und Reporter brauchen einander: Die einen wollen Siege verkünden. Die anderen wollen berichten und durchkommen

Niemals ist der Journalist allein. Ein vertrauliches Gespräch? Unmöglich.

aus Duschanbe BERNHARD ODEHNAL

Es sind die ersten Stunden im befreiten Kundus, Montagvormittag. Der russische Militärjeep mit einem Fahrer und vier Journalisten – drei Männer, eine Frau – fährt vorbei an tausenden bewaffneten Soldaten der Nordallianz, die einander misstrauisch belauern, und an tausenden Zivilisten, die sich noch nicht recht entschieden haben, ob sie sich freuen oder fürchten sollen. Wir Journalisten wollen wissen, was „das Volk“ so denkt, denn das gehört in jeden Zeitungsartikel. „Wir freuen, uns, dass die Taliban endlich weg sind“, sagt ein Tadschike, „und ihr seid hier sehr willkommen. Aber jetzt solltet ihr schnell wieder wegfahren. Die Taliban haben nämlich ein Kopfgeld auf Ausländer ausgesetzt.“

Mohammed, der am Steuer sitzt, übersetzt. Er fährt gut Auto, spricht gut Englisch, kennt alle handelnden Personen in der Gegend. Mohammed hat uns auch hierher gebracht, ins befreite Kundus, denn er ist der kleine Bruder des Kommandanten Amir Latif Ibrahimi, der die Stadt in der vorherigen Nacht eingenommen hat.

Es ist gut, einen wie Mohammed an seiner Seite zu haben; beschützt zu werden in einer verworrenen Situation, in der man die Kämpfer der verschiedenen Seiten nicht voneinander unterscheiden kann und keine der vielen Landessprachen versteht. Bloß: Was hat Mohammed übersetzt? Was hat „das Volk“, das wir an diesem Vormittag befragen, wirklich gemeint? Welcher Tadschike würde dem Bruder eines siegreichen Kommandanten der Nordallianz erzählen, wie sehr er die Taliban verehrt habe? Die Geschichte mit dem Kopfgeld passt Mohammed wunderbar ins Konzept. Längst schon versucht er, unseren Rechercheeifer zu dämpfen, uns von der Gefährlichkeit der Lage zu überzeugen und uns davon abzuhalten, allein durch die Straßen zu gehen.

Informationen sind in Afghanistan ein rares Gut. Umso wichtiger ist das Konzept der Gastfreundschaft. Jeder Journalist, der sich aus Tadschikistan von der Fähre, die eigentlich ein umgebauter Traktor ist, in dieses Land bringen lässt, landet unweigerlich in den Armen eines Warlords. Es geht nicht anders: Der Kommandant ist zugleich Bürgermeister, Feudalherr und Fremdenverkehrsbüro eines Ortes in Personalunion. Mit hoher Wahrscheinlichkeit gehört das Gästehaus, in dem man absteigen und für 20 Dollar auf dem Boden schlafen darf, irgendeinem seiner Familienmitglieder. Der Kommandant entscheidet, ob eine Straße sicher genug ist, um sie zu befahren, und von ihm hängt es ab, ob man für die Fahrt ein Auto bekommt oder nicht.

Das hat Vorteile: Nur ein Militärkommandant weiß, wo im Moment die Front verläuft, und nur er erfährt über Funk, wo gerade marodierende Taliban lauern könnten. Nur einheimische Fahrer kennen die Rumpelpisten über kahle Berge und durch Sandwüsten. Nur sie wissen, wo die Minenfelder sind. Und wenn Mohammed kraft der Autorität seines großen Bruders, des Kommandanten, ein Interview arrangiert, dann wird sich kaum ein Würdenträger weigern.

Doch das Bild, das sich aus diesen Berichten zusammensetzt, ist ein recht willkürliches. Es gibt nur ganz wenige Orte in Afghanistan, die halbwegs sicher auf dem Landweg erreichbar sind. Schreibende Journalisten schließen sich meist zu kleinen Gruppen zusammen, die gerade in eine Wolga-Limousine oder einen Jeep passen. Das bringt Kommunikation, ein wenig Sicherheit und spart viel Geld (für 50 Kilometer Rumpelpiste muss man schon mal 400 Dollar bezahlen). Dass bedeutet aber auch, dass man gemeinsam dieselben Orte bereist, mit den gleichen Menschen spricht. Was von den Redaktionen zu Hause nicht so gern gesehen wird: Man möchte schließlich Exklusivmaterial!

Ein Warlord muss die Journalistenmeute gar nicht erst in sein Revier locken. Sie hat ohnehin keine andere Möglichkeit: Der Journalist braucht den Kommandanten, nur über ihn kommt er an Information und Infrastruktur. Ebenso braucht aber der Kommandant den Journalisten, schließlich möchte er die Welt von seinen glorreichen Siegen in Kenntnis setzen. Der tadschikische Kommandant Mohammed Daud zum Beispiel, in Taloqan: 200 Reporter lauschen dort seinen täglichen Pressekonferenzen. Als Daud verkündete, er habe Kundus als Erster eingenommen, ging das als Nachricht um die ganze Welt. Amir Latif hingegen, mit seinen einsamen vier schreibenden Reportern, hatte Pech. Nicht einmal die amerikanischen Bomberpiloten, die die Festung von Kundus bombardierten, hatten erfahren, dass dort längst nicht mehr die Taliban, sondern verbündete Truppen saßen – Latifs Soldaten.

Der Mangel an Informationen schafft Angst und Unsicherheit – auch bei Journalisten. Der Raubmord an einem schwedischen Kollegen in Taloqan war für die dort versammelten Reporter ein Alarmsignal: Auch unter dem Schutz eines Kommandanten ist man nicht sicher. Wenn es um Raub geht, kann man sich nicht einmal mehr aus das Freund-Feind-Schema verlassen. Dutzende Journalisten ergriffen am Tag darauf die Flucht über die Grenze, ins sichere Tadschikistan.

Tatsächlich wurde die Lage in der Region nach dem Fall von Kundus noch unübersichtlicher: Wo vorher eine klare Frontlinie war, liefen plötzlich zehntausend Taliban herum; die meisten von ihnen bewaffnet. Viele von ihnen wollten einfach nur unerkannt nach Hause kommen. Doch Garantien gab es keine: Wer soll einen schützen vor einem hasserfüllten Selbstmordattentäter, der sich mit gezündeter Handgranate auf einen wirft? Was tun gegen versprengte, verzweifelte Taliban-Gruppen, die Angst vor der Gefangennahme, die Hunger und kein Geld in der Tasche haben? Und: Woran soll man diese Leute, die mit ihren Turbanen und Umhängen alle irgendwie ähnlich aussehen, rechtzeitig erkennen?

Das Problem der Recherche beginnt mit der Sprache. An den wenigen Orten, wo sich die Reportermeute konzentriert, sind kompetente Übersetzer kaum zu bekommen; und auch die Amateure, die grade mal mit ein paar Jahren Schulenglisch aufwarten können, verlangen schon 150 Dollar am Tag. Die meisten dieser jungen Burschen haben wahrscheinlich noch nie eine Zeitung gelesen, geschweige denn einem Journalisten bei der Arbeit zugeschaut. Ein Tag Arbeit ist meistens ein Tag voll Spannung und unterschwelliger Aggression: der Übersetzer versteht nicht, warum ein Reporter immer wieder unhöflich insistiert, auch wenn er eben ein „Nein“ gehört hat. Er übersetzt nicht wörtlich, sondern erklärt lieber, was der Interviewte gemeint haben könnte. Oder er übersetzt gar nicht und liefert nur seine eigene Erklärung. Und das Prinzip des Zeitdrucks, eines näher rückenden Redaktionsschlusses, wirkt im mittelalterlichen Afghanistan so fremd wie ein Besucher aus dem All.

Kopfgeld? Hat das der Befragte gesagt? Oder der Übersetzer dazugesetzt?

Manchmal wird die Sprachverwirrung geradezu babylonisch: Ein junger Taliban, der uns im Gefängnis von Imam Sahib in Ketten vorgeführt wird, spricht nur Paschtunisch. Sein Wärter übersetzt seine Worte ins Dari, unser Übersetzer ins Russische (er kann kein Englisch), ich für meine Kollegin aus dem Russischen ins Deutsche. Es könnte durchaus sein, dass die eine oder andere Nuance auf dem langen Weg verloren ging. Immerhin: Wir erfahren, dass der Taliban Mullah Omar für einen guten Menschen hält und wir die ersten Ausländer sind, die er jemals zu Gesicht bekommen hat.

Gewöhnungsbedürftig ist auch das Gefühl, niemals allein zu sein: Ein vertrauliches Gespräch unter vier Augen ist unmöglich. Ein Interview auf der Straße zieht unweigerlich einen Kreis dutzender lauschender Passanten an. Und nicht einmal abends, beim Schreiben, ist man allein: Die Kinder aus der Nachbarschaft sitzen im Kreis auf den harten Matten herum, kichern und starren ausdauernd; die erwachsenen Nachbarn wollen den Laptop bestaunen, hilfreich die Taschenlampe halten, englische Buchstaben entziffern lernen oder das Satellitentelefon benutzen. In Afghanistan ist es ein Zeichen der Höflichkeit, Gäste niemals allein schlafen zu lassen.

Wir haben es, als Gäste Amir Latifs in Imam Sahib, vergleichsweise gut erwischt: 15 Quadratmeter Zimmer ohne Aussicht für drei Journalisten und einen Übersetzer, ein verstaubter Teppich, harte Schlafmatten und Wolldecken. Das Klo ist ein Erdloch hinter einer Lehmwand draußen im Hof, kaltes Wasser zum Waschen gibt es in einer Plastikkanne aus dem Brunnen. Eine Heizung existiert nicht, obwohl die Temperatur in der Nacht unter null fällt. Dafür aber liefert ein kleines Wasserrad draußen vor der Stadt, das ebenfalls der Familie Ibrahimi gehört, vier Stunden lang am Tag Strom. Mit intelligenter Logistik kann man es schaffen, mit zwei Steckdosen sämtliche Akkus von Computern, Telefonen und Digitalkameras aufzuladen. Andere Journalisten müssen für weniger Komfort viel mehr bezahlen.

Im Haus nebenan allerdings schlummert das Rätsel, das die Männer der Reportergruppe bis zum Ende der Reise nicht werden lösen können: Dort wohnen die Frauen der Familie Ibrahimi samt Kindern. Sie sind neugierig und schicken ihre Kinder mit unverständlichen Botschaften herüber. Sie würden gern mit den seltsamen Ausländern sprechen und die seltsamen Ausländer auch mit ihnen; bloß: Fremde Männer zu empfangen ist ein Ding der Unmöglichkeit, denn es würde Schande über den Kommandanten bringen. Der Kollegin gelingt schließlich ein Besuch. Sie darf vor den versammelten Frauen ein Bad nehmen. Aber die Kommunikation beschränkt sich auf den Austausch von Lächeln, von hilflosen Gesten und Geschenken: Eine Frau, die übersetzen könnte, ist in der ganzen Stadt nicht aufzutreiben.

Die Geschichten aus Afghanistan können nie die ganze Geschichte sein. Es sind Geschichten aus jenen Ausschnitten der Gesellschaft, die Ausländern im Rahmen des Konzepts der Höflichkeit zugänglich sind: aus der Sicht der Männer; aus der Sicht der Gastgeber; der Kriegsherren, der Sieger. Das ist nicht viel. Man kann sich damit trösten, dass es mehr ist als gar nichts.

Der Autor ist Auslandsredaktor bei der Zürcher Weltwoche. Er hielt sich in den letzten acht Tagen in der Region von Kundus in Nordafghanistan auf und berichtete von dort auch regelmäßig für die taz.