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: HELMUT HÖGE über Popismus

Reintegrierendes Gefiepe

Einige Historiker meinen, dass die Beweggründe für die Studenten- und Schülerrevolten der Sechzigerjahre in Amerika und Westeuropa, darauf zurückzuführen sind, dass damals zum ersten Mal eine nennenswerte Zahl junger Menschen aus der Mittelschicht über genügend Kaufkraft verfügte, um sich eine eigene Kultur leisten zu können. Die ersten Anfänge waren noch terroristisch. Bei Stones-Konzerten kam es zu Saalschlachten mit den Kräften der Ordnung. Seitdem hat sich daraus aber ein regelrechter „Pop-Diskurs“, verbunden mit neuen Medien und anerkannten Kulturwissenschaftlern, herausgemendelt. Längst ist auch der Ostblock davon erfasst. Den Anfang machte das fast blockfreie Jugoslawien – ab 1968, danach bildete sich auch in der UdSSR, in der Tschechoslowakei, in Ungarn, Polen und in der DDR eine jugendlich-dissidentische Subkultur heraus.

Über Rumänien urteilt der Popkritiker Ted Gaier: In den 70er- und 80er-Jahren schritt die Isolation des Landes voran. „Wer sich glücklich schätzen konnte, eine Deep-Purple-Platte zu besitzen, wusste, was er daran hatte und hörte sie, bis die Rillen durchgescheuert waren. Das Land lag in einem Dornröschenschlaf, während nicht weit entfernt, in Belgrad und Budapest, brodelnde Punk- und New-Wave-Szenen entstanden.“ Als sich dann nach der Ermordung Ceaușescus ausgehend von den Studentenhäusern – wo man wohngemeinschaftsmäßig gewirtschaftet, „Marihuana geraucht, Westradio gehört und jede Menge Unfug angestellt hatte“ – langsam eine „Protestbewegung“ entwickelte, wurde diese sogleich durch von oben inszenierte Arbeiterdemonstrationen unterdrückt: Mit Sonderzügen rückten „aufgepeitschte Bergarbeiter und grobschlächtige Hinterwäldler an und droschen drei Tage lang auf alle ein, die auf Grund von Merkmalen wie ‚eine Brille tragen‘ für Oppositionelle gehalten werden konnten“.

In Westdeutschland hatte man zuvor die Studentenbewegung durch elf neue zunächst demokratische Universitäten reintegriert und dann dort sogar eigene Pop- und Performance-Lehrstühle eingerichtet. In Westberlin wurde Nacktbaden und dann auch Marihuana-Rauchen toleriert, bald gab es sogar einen Senats-Rock-Beauftragten und Heavy-Metal-Konzerte in Kirchen. Die Kommerzialisierung der Jugendkultur ging so weit, dass das Kölner Zentralorgan des Pop, Spex, vor lauter Konkurrenz eingestellt werden musste. Dort hatte man noch am konsequentesten die Idee einer Jugendmusik und -mode als Ausdruck von Revolte und Widerstand verfolgt, und dementsprechend die amerikanische Jugendkultur der Schwarzen bis in die letzte Arschfalte hinein analysiert.

Einen Sonderweg ging der Westberliner Pop, wo der Record-Artist Westbam, den sein Vater William sowie der Underground-Zeitungsmacher Indulis Bilzens managten, sein Scratching mit Techno verband – und es damit zum Bundestechnosprecher sowie zum halben Besitzer der Firma Love Parade brachte. Seinen Erfolg verdankt er vor allem den „Ost-Ravern“, für die der Maschinenbeat aus ihren Ost-Jugendsendern bald voll und ganz die verloren gegangenen Fabrikarbeitsplätze ersetzte, selbst ostdeutschen Polizisten gelang es, nach dem Gefiepe und Wortsalat, der nächtens aus ihrem Funkgerät kam, zu raven. Zunächst war Westbam mit einem Partner namens Eastbam aufgetreten: ein lettischer DJ, der mit Tonbändern scratchte. In Riga hatte die Sowjetunion Architekten ausgebildet, die jedoch nie etwas bauen durften, weil die Planung zentral in Leningrad geschah. Die lettischen Architekturstudenten begannen deswegen in den 80ern, sich mit Video-Art, Performance und neuen Medien zu beschäftigen.

Hier wird inzwischen die Popkultur derart schnell vermarktet, dass sie selbst laufend neue Stile – vornehmlich aus der Dritten Welt – verbrät, um Neues anzubieten. Oder jetzt sogar umgekehrt, sich die letzten Spiegelungen des Pop im ehemaligen Ostblock authentisch reintut.