Ein Traumjob in der Winterzeit

Sandra Fahnenstich ist stadtbekannt. Zumindest unter den Obdachlosen. Mit dem Kältebus der Stadtmission sammelt sie fünfmal pro Woche diejenigen ein, die es nicht allein in die Notübernachtung schaffen. Manchmal wird sie regelrecht erwartet

von BETTINA FICHTNER

Die Nacht ist kalt und klar. Sandra Fahnenstich zurrt den Reißverschluss ihrer Daunenjacke nach oben und wickelt den grauen Wollschal bis an die Ohren. Unter der Jeans trägt sie Skiunterwäsche. „Sonst frierst du dir was ab“, sagt die 26-Jährige und prüft den Kofferrauminhalt des blauen VW-Busses. Schlafsäcke, Decken, Thermoskannen mit heißem Tee und ein paar warme Pullis aus der Kleiderkammer gehören zur Ausrüstung des Kältebusses der Berliner Stadtmission. Mit ihm macht sich Fahnenstich von November bis März fünf Nächte die Woche auf die Suche nach den Schwächsten unter den Gestrandeten der Großstadt. Denjenigen, die es nicht alleine in die wärmespendenden Notübernachtungen schaffen, wenn Hauseingänge und Brücken keinen Schutz mehr vor der Kälte bieten. Denjenigen, die ohne den Kältebus vielleicht erfrieren würden.

Heute Nacht fährt Fahnenstich den Wedding ab. Den Obdachlosen in Parks und Bahnhöfen wird sie eine Fahrt zur Notübernachtung der Stadtmission anbieten. „Nicht alle kommen mit“, erzählt die studierte Sozialpädagogin. Manchen halte schon das Alkoholverbot in Bus und Schlafstatt vom Einsteigen ab. Doch mit ein paar freundlichen Worten und einer heißen Tasse Tee könne man helfen. Besonders die, die ganz alleine seien, freuten sich, wenn jemand komme, „der einfach Interesse zeigt“. Anfangs sei ihr bei den nächtlichen Touren schon mulmig gewesen „so als Frau“ – besonders bei Fahrten an entlegenere Orte. Doch die Angst habe sich als unbegründet erwiesen. Frausein habe sogar Vorteile, meint Fahnenstich, „weil die Leute leichter Vertrauen fassen“. Zudem fährt die Ostberlinerin nie allein. Heute begleitet sie Joachim, der den Kältebus aus seiner Zivi-Zeit kennt. Ihre erste Station ist der U-Bahnhof Osloer Straße.

Auf einer Bank an den Gleisen wartet Peter. Als er die junge Frau von weitem kommen sieht, tippelt er ihr leicht schwankend entgegen. Er lächelt so breit, dass man seine kaputten Zähne sehen kann. „Alles vom Feinsten“, nuschelt er auf die Frage, wie’s denn gehe, und lässt sich ohne Schwierigkeiten zum Bus geleiten. Dort plappert Peter, der mit lila Hemd und weißem Pollunder unter dem Anorak relativ gepflegt aussieht, ohne Unterlass von „früher“. Als er „Chef de Rang“ gewesen sei, „nur in den besten Hotels“. „Dann ist der Alkohol gekommen“, sagt Peter und wackelt mit dem Kopf. Er könne aber noch immer „hundert Teller tragen“. Zwanzig Minuten später lehnt Peter am Empfang der Notübernachtung. In den Kellerräumen des Stadtmissionszentrums geben die Gäste ihre Sachen ab, lassen sich auf Alkohol und Waffen untersuchen und setzen ihren Namen auf eine Liste. Der Eintrag ist freiwillig. Wer will, kann anonym bleiben. Peter ist „sauber“ und darf reinkommen. Vor dem Schlafengehen bekommt er einen Teller Suppe und Tee. Seine erste warme Mahlzeit an diesem Tag.

Im Nachbargebäude befindet sich der Schlaftrakt. Fünfzig Personen finden dort auf zwei Etagen ein Dach über dem Kopf. „Eigentlich“, sagt Fahnenstich, denn wenn es richtig kalt werde, seien an die hundert Gäste keine Seltenheit. Auf den Isomatten liegen sie dicht an dicht. Obwohl es streng nach Körperausdünstungen und Alkohol riecht, wirkt der Anblick friedlich. „Wir haben Glück“, sagt Fahnenstich, „in diesem Jahr haben wir hier noch keine Polizei gebraucht.“ Dennoch denkt sie ans Aufhören. Sie fährt den Kältebus im zweiten Jahr und ist sich sicher: „So einen Job machst du nicht ewig.“ Zwar sei die Arbeit momentan ihr „Traumjob“, aber selten ist sie vor vier Uhr morgens zu Hause. Das sei „beziehungstechnisch“ schwierig. Schließlich sei sie frisch verheiratet.

Auf dem Weg zum Bahnhof Zoo kommt Fahnenstich noch einmal auf Peter zu sprechen. Er sei ein „klassischer Fall“, sagt sie. Als Kältebusfahrerin ist sie zur Expertin in Sachen sozialer Abstieg geworden. Trennung, Alkohol, Jobverlust tauchten in unterschiedlicher Reihenfolge immer wieder in den Geschichten ihrer Fahrgäste auf. Auch bei Wolle, dem Rollstuhlfahrer, ein Stammkunde, den sie diesmal an der Bahnhofsmission einsammelt. Er ist stark angetrunken und erzählt drauf los. Profifußballer sei er gewesen. Bei Borussia Dortmund. Da habe er „12.000 Mark im Monat“ verdient. Dann sei der Suff gekommen, „wegen einer Frau“. Seit zwanzig Jahren lebe er auf der Straße.

Fahnenstich konzentriert sich auf’s Fahren. „Oft weiß man nicht, was man glauben soll“, sagt sie, nachdem sie Wolle in der Notübernachtung abgeliefert hat. Manche erzählten jedes Mal etwas anderes. „Die Geschichten sind zum Teil wahr und zum Teil erfunden“, sagt Joachim, dessen Lächeln kein Elend der Welt zu erschüttern vermag. Sandra Fahnenstich nickt. Oft vermischten sich Wunschdenken und Wirklichkeit, sagt sie und fügt nach einer Pause hinzu: „So gesehen sind sie alle irgendwie wahr.“