Kampf um das virtuelle Sein

Die chinesische Regierung will das Internet fördern und zugleich kontrollieren. Dabei gerät sie zunehmend in die Defensive. Auslandsserver helfen beim Umgehen volksdemokratischer Zensur

aus Peking GEORG BLUME
und KRISTIN KUPFER

In Chinas virtuellen Weiten surfen heißt übersetzt „das Universum durchfliegen“. In Pekings gleichnamigem größtem Internetcafé sind jeden Tag rund 10.000 Gäste im Netz unterwegs. Ihnen zur Seite stehen auf jedem der fünf Stockwerke drei bis vier „Internet-Sicherheitsinspektoren“. Sie werfen stellvertretend für eine aufgrund der Informationsfreiheit im Internet besorgte Kommunistische Partei ihr Auge in das neue Universum.

„Wer Pornos, Falun Gong oder andere illegale Seiten anschaut, wird verwarnt“, erklärt Inspektor Wang Hai auf der zweiten Etage. „Erwische ich den Gast noch mal, fliegt er raus. Aber das passiert höchstens einmal im Monat.“ Hai schlendert achtlos an einem amerikanischen Studenten vorbei, der gerade die New York Times online liest. – „Das Internet in China ist viel freier, als ich dachte“, sagt der 20-jährige Adam aus New Jersey. „Ich nutze hier die gleichen Webseiten wie zu Hause.“

Die Informationskultur des Internets sprengt in der Volksrepublik längst die Welt der Parteipropaganda: Laut dem Informationszentrums für das chinesische Internet (CNNIC) gab es zum Juli 2001 rund 26,5 Millionen Netznutzer – über zehnmal mehr als 1999. Im Jahr 2010, schätzt die US-Investmentbank Morgan Stanley, werden die Chinesen mit 205 Millionen Online-Surfern die Amerikaner als größtes Uservolk überholt haben. Offiziell ist das der Partei sogar recht: Staats- und Parteichef Jiang Zemin propagiert höchstpersönlich das Internet als „Motor der Entwicklung“.

Kontrollbürokratie

Doch die Partei will auch das virtuelle Sein bestimmen. Dazu hat sie einen gewaltigen bürokratischen Apparat geschaffen: Neben dem Ministerium für Informationsindustrie sind das staatliche Amt für Industrie und Handel, das Ministerium für öffentliche Sicherheit und das Internet-Informationsmanagementbüro zuständig. Durch ein 2000 verabschiedetes Internetdienstleistungsgesetz kontrolliert die Regierung die Zahl der Anbieter. Die Internetzugänge sind zudem staatlich monopolisiert, was die Blockade von unliebsamen Informationen von CNN, amnesty international und der Falun-Gong-Sekte ermöglicht. Mindestens hundert internationale Webseiten sind deshalb für Chinesen nur schwer zugänglich.

Westliche Verteidiger der virtuellen Freiheit helfen beim Durchbrechen chinesischer Zensurmauern: Über Proxy-Server im Ausland können chinesische Nutzer die Blockaden von Webseiten umgehen. Allerdings spürt die chinesische Internetpolizei solche Server auf, um sie ebenfalls zu sperren. Deshalb entwickeln derzeit sowohl Hackergruppen als auch Software-Häuser in den USA im US-Regierungsauftrag neue Software, die gesperrte Seiten erkennen und auf Umwegen erreichen kann. „Hier findet ein technologisches Wettrennen statt. Beide Seiten werden immer neue Möglichkeiten entwickeln“, pogonostiziert Caroline Staraathof, Sprecherin von Chinas führendem Internet-Unternehmen Sohu.com.

Schon sehen manche einen „virtuellen Weltkrieg“ zwischen China und Amerika voraus. Doch in Wirklichkeit entstehen im chinesichen Netz täglich neue, kleine Freiräume, die einer Zuspitzung des Konflikts entgegenwirken. Beispiel Chatrooms und Bulletinboards: Die den Bildschirm entlangfließenden Äußerungen bei Online-Gesprächen sind aufgrund ihrer Geschwindigkeit kaum zu kontrollieren. Und in den Diskussionsforen der Internetportale herrscht heute eine in China bislang unbekannte Meinungsfreiheit. „Die meisten Beiträge sind unter einem Pseudonym verfasst, nur in manchen Fällen bekommt der Autor dann eine Verwarnungs-Mail“, erklärt Staraathof.

Große etablierte Anbieter wie Sohu.com genießen das Vertrauen der Regierung, was ihnen innerhalb der gesetzlichen Vorgaben manche Freiheiten eröffnet. Die Nachrichten auf der Sohu.com-Homepage dürfen zwar nicht selbst verfasst sein, sondern müssen aus staatlichen Medien übernommen werden. „Wenn dann allerdings über eine von uns aufgegriffene Lokalmeldung eine nationale Diskussion entbrennt, muss sich die Regierung bei anderen beschweren“, meint die Sohu-Sprecherin. Berühmt ist der Fall, als eine von der Regierung zunächst vertuschte Explosion in einer Schule im Mai letzten Jahres im Internet bekannt wurde und sich Premierminister Zhu Rongji am Ende persönlich für den Skandal entschuldigen musste.

Langfristig folgenreicher als das Aufdecken solcher Missstände ist die neue Diskussionskultur, die im Netz entsteht. Ausgerechnet die Webseite des offiziellen Parteiblatts trägt hierzu bei: Nirgendwo wird in der chinesischen Öffentlichkeit derzeit so kontrovers über den Afghanistan-Krieg gestritten wie in dem Diskussionsforum „Starkes Land“ der Volkszeitung. „Als etabliertes Medium hat das Blatt die Möglichkeit, Neues auszuprobieren. Wenn es dann Kritik gibt, entschuldigen sich die Zuständigen und nichts passiert“, erklärt Zhou Mao, Marketingleiter des Sohu.com-Konkurrenten Sina.com. Private Webseiten oder kleine Foren würden dagegen sofort geschlossen, wenn sie zu populär oder kritisch werden.

Die Grenzen der Zensur im chinesischen Internet werden so ständig neu bestimmt. Zwar hat die Kommunistische Partei immer noch das letzte Wort, doch verbreitet sich manche unangenehme Botschaft, bevor sie von der Zensur entdeckt wird. Statt wie im Print- und TV-Zeitalter alle Informationen selbst verbreiten zu können, muss die Partei heute immer neue virtuelle Verteidigungswälle aufschütten. – Das Internet hat sie in die Defensive gezwungen.