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: Was in Gesprächstherapien vor sich gehen kann, zumal wenn Freud, Breuer und Nietzsche sich treffen

Tiefenschwindel und Redekuren

Die Psychoanalyse, ätzte einst Sigmund Freuds Zeitgenosse Karl Kraus, sei die Krankheit, die zu heilen sie vorgebe; und seitdem waren es nicht die Dümmsten, die sich vor dem „Tiefenschwindel“ (Dieter E. Zimmer) der Freud’schen Seelenseziererei mit Grausen abwandten, so unter anderen Vladimir Nabokov. Dennoch haben Freuds Theorien auf sehr vielfältige Weise auch ihren Einzug in die Literatur gehalten. Zumeist reflektiert erzählende Literatur Freud’sche Einflüsse indirekt, indem sie bestimmte Ergebnisse der Theorie literarisch durchspielt oder damit Charaktere grundiert – das reicht von Schnitzler über Döblin bis hin zu Dieter Wellershoff und schließlich noch zu Frank Schulz’ großem Roman „Morbus fonticuli“ (taz vom 21. 11.).

Aber auch Freud selbst ist inzwischen zur Romanfigur geworden; genauer gesagt: sein Leben ist Grundlage des voluminösen, biografischen Romans „Der Seele dunkle Pfade“ des amerikanischen Romanciers Irving Stone, der auch schon Romanbiografien über van Gogh und Michelangelo verfasst hat und somit ein Routinier des Genres ist. Stilistisch ist das grundsolider, amerikanischer Schmökerrealismus, der wenig riskiert, aber eigentlich auch nichts falsch macht und Freuds langsames Vordringen ins Seelenlabyrinth in die geistige und gesellschaftliche Atmosphäre Wiens einbettet, die mit detailreicher Opulenz entfaltet wird.

Wichtige Impulse erhielt Freud von seinem älteren Freund und Kollegen Josef Breuer, der mit der Entdeckung der „Redekur“ die Gesprächstherapie erfand. In Stones Roman ist Breuer entsprechend eine wichtige Nebenfigur. In Irvin D. Yaloms Roman „Und Nietzsche weinte“ ist es umgekehrt. Hier steht Breuer im Zentrum, und Freud taucht als Nebenfigur auf. Yalom, der selbst Professor für Psychiatrie ist, lässt in seiner Fiktion dem Dr. Breuer nun jedoch einen ganz besonderen Patienten zuführen, nämlich Friedrich Nietzsche.

Nach anfänglichem Sträuben des Philosophen kommt es zwischen den beiden zu heftigen Rededuellen, in deren Verlauf Breuer merkt, dass seine Methode nur Erfolg haben kann, wenn der Therapeut sich selbst auch als Patient begreift. Wer sich auf dies Buch einlässt, kann sich seinem erstaunlichen Sog nicht völlig entziehen. Das ist deshalb bemerkenswert, weil Yalom in den beschreibenden Passagen mit einer stilistischen Beschränktheit, ja Bedenkenlosigkeit hantiert, die kein Klischee meidet und knietief im Kitsch watet.

Dass biografische Romane, gerade auch aus dem psychoanalytischen Dunstkreis, mehr als derart hausbacken nacherzählte bzw. erfundene Fallstudien sein können, hat 1999 Manfred Dierks mit „Das dunkle Gesicht“ bewiesen, einem ironischen, stilistisch eleganten Roman über C. G. Jung – in dem natürlich auch wiederum Freud umgeht. In Dierks’ Roman wird auch das Problem thematisiert, inwieweit die Tiefenpsychologie Jungs von völkischen und rassistischen Wahnvorstellungen instrumentalisiert werden konnte. Umgekehrt geht der Freiburger Psychoanalytiker Tilman Moser in seinem Buch „Dämonische Figuren. Die Wiederkehr des Dritten Reiches in der Psychotherapie“ der Frage nach, inwieweit Tiefenpsychologie auch politische Psychologie sein kann oder muss. Moser hat therapeutisch mit faschistischen Tätern und deren Kindern gearbeitet, „um die verinnerlichten dämonischen Bilder“ nationalsozialistischer Herrschaft zu bewältigen. KLAUS MODICK

Irvin D. Yalom: „Und Nietzsche weinte“. Serie Piper. 447 Seiten, 18,90 DM.Irving Stone: „Der Seele dunkle Pfade“. rororo. 1.231 Seiten, 24,90 DM.Tilman Moser: „Dämonische Figuren“. suhrkamp tb. 348 Seiten, 19,90 DM.