Mehr Wahrheiten über Herrn H.

Literarische Unbestimmtheitsrelationen: Bücher über den deutschen Physiker Werner Heisenberg: „Das Klingsor-Paradox“ von Jorge Volpi, „Kopenhagen“ von Michael Frayn, „Heisenberg und das Atombombenprojekt der Nazis“ von Paul Lawrence Rose

von DIEMUT ROETHER

Deutschland, im Mai 1945: In der Universitätsstadt Heidelberg trifft der holländische Physiker Samuel I. Goudsmit auf den deutschen Physiker Werner Heisenberg. Das letzte Mal hatten sich die beiden Männer „an der Universität von Ann Arbor in Michigan getroffen, während Heisenbergs letzter Reise vor dem Krieg. Dazwischen lag nicht nur die Zeit – dieses trügerische Konstrukt des Geistes –, sondern der moralische Abgrund zwischen Opfer und Henker, Angeklagtem und Richter, dem Freund, der sich verraten fühlt, und dem, der sich höchstwahrscheinlich als Verräter erkennt.“ Dem amerikanischen Leutnant Francis Bacon erzählt Goudsmit hinterher, er habe Heisenberg das gleiche Angebot wie bei ihrer letzten Begegnung gemacht: Er habe ihn eingeladen, in den USA zu arbeiten. Heisenberg habe abgelehnt – wie damals. „Mit diesem typisch deutschen Ausdruck der Überlegenheit hat er nur gesagt: ‚Nein, ich möchte nicht fortgehen. Deutschland braucht mich.‘ “

So schildert der mexikanische Schriftsteller Jorge Volpi in seinem Roman „Das Klingsor-Paradox“ die erste Begegnung der ehemaligen Kollegen Goudsmit und Heisenberg nach dem Krieg. Samuel Goudsmit leitete damals die wissenschaftliche Abteilung der britisch-amerikanischen Alsos-Mission, die den Stand der deutschen Atomforschung in Erfahrung bringen sollte. In den letzten Wochen des Krieges bestand das oberste Ziel der Alsos-Mission darin, die zehn Wissenschaftler, die mit dem deutschen Atomprojekt in Verbindung standen, festzunehmen, bevor sie den Russen oder den Franzosen in die Hände fielen.

Nur den Leutnant Francis Bacon hat Volpi erfunden. Der Namensvetter des berühmten englischen Naturforschers ist für Volpi die Figur, die er benutzt, um eine atemberaubende Geschichte zu erzählen: die Geschichte der Atomphysiker im „Dritten Reich“, die zugleich die Geschichte der modernen Physik ist. Und, das merkt Volpi im Gespräch in aller Bescheidenheit an, er habe in seinem historischen Roman, der zugleich Krimi und Liebesroman ist, auch ein Porträt des 20. Jahrhunderts zeichnen wollen.

John von Neumann, Kurt Gödel, Albert Einstein, Werner Heisenberg – die begabtesten Mathematiker und Physiker des vergangenen Jahrhunderts bevölkern Volpis Roman und werden auf ein menschliches Maß gestutzt. Doch damit nicht genug: Dem Mexikaner gelingt es obendrein, die Theorien dieser Geistesgrößen in seine Erzähltechnik zu übertragen. Ein riskantes Experiment, das ihm – so unwahrscheinlich es klingt – mit spielerischer Leichtigkeit gelungen ist. Wie macht er’s bloß?

Volpi hat sich des Themas mit großer Lust am Gedankenexperiment angenommen. Wie ein Naturwissenschaftler arbeitet er mit Variablen und Studien, stellt Hypothesen auf und verwirft sie wieder, formuliert Gesetze, die er schreibend prompt widerlegt, und entwickelt so en passant eine Theorie des Erzählens.

Mit der Verhaftung der deutschen Wissenschaftler, die im so genannten Uranverein während der Nazizeit über die wirtschaftliche Nutzung der Atomenergie forschten, wurde dieses Stück Wissenschaftsgeschichte zum Krimi. Die Engländer internierten die Deutschen in Farm Hall, einem Gebäude des britischen Geheimdienstes, das mit Wanzen gespickt war. Sechs Monate lang wurden die Gespräche der Wissenschaftler aufgezeichnet. Amerikaner und Briten wollten vor allem Klarheit darüber erlangen, ob die Deutschen noch irgendwo Forschungsmaterial versteckt hielten und ob die Wissenschaftler nach ihrer Freilassung vorhatten, für die Russen zu arbeiten. Bis Anfang der Neunziger hielten die Briten die aufschlussreichen Protokolle dieser Überwachungsaktion vor der Öffentlichkeit geheim.

Doch auch nach Veröffentlichung der Protokolle ist Heisenbergs Rolle in der Atomforschung im Dritten Reich immer noch unklar. Heisenberg, das Wunderkind. Der geniale Physiker. Nobelpreisträger mit Anfang dreißig. Der Unpolitische. Der deutsche Patriot, dessen Religion die Physik war. Der Ausnahmewissenschaftler, der so unsensibel war, gar nicht zu bemerken, wie sehr er Emigranten und Kollegen im Ausland mit seinem schneidigen, deutschnationalen Auftreten und seinem offen zur Schau getragenen Glauben an Hitlers Endsieg verletzte. Der von den Nazis als „weißer Jude“ geschmähte theoretische Physiker, der später gelegentlich andeutete, dass er froh war, dass er die Bombe für Hitler nicht bauen konnte. Der „zweideutige Mensch“. Ein Faust, der seine Seele um der Erkenntnis willen an den Teufel verkaufte. Ein Mann wie das Jahrhundert, der auch 25 Jahre nach seinem Tod immer noch für Polemik sorgt. Morgen wäre Heisenberg hundert Jahre alt geworden.

Viel ist darüber gemutmaßt worden, warum Heisenberg im September 1941 seinen väterlichen Freund Niels Bohr in dessen Kopenhagener Institut aufsuchte. Wollte er Bohr etwa für eine Zusammenarbeit mit den Deutschen gewinnen? Wollte er ihn aushorchen? Wollte er ihn warnen? Fest steht, dass es zwischen den beiden zum Streit kam und dass die Kränkung so tief saß, dass sie sich auch nach Kriegsende nicht mehr beseitigen ließ. Amerikanische, englische und deutsche Wissenschaftshistoriker haben unzählige Hypothesen über das Treffen entwickelt, die sich auch in Volpis Roman widerspiegeln. Der britische Dramatiker Michael Frayn hat aus dieser Begegnung ein Aufsehen erregendes Theaterstück gemacht, das kürzlich zusammen mit zwölf Aufsätzen von Wissenschaftshistorikern in einem Buch herauskam. Für alle, die nach der Lektüre von Volpis Roman mehr Wahrheiten über Heisenberg herausfinden wollen, ist dieses Buch die ideale Ergänzung.

Nach dem Krieg mussten Heisenberg und seine Kollegen sich nicht nur dafür rechtfertigen, dass sie während des Nationalsozialismus in Deutschland geblieben waren; sie mussten auch eine plausible Erklärung dafür finden, warum es ihnen, die als die besten Physiker der Welt galten, im Gegensatz zu den Amerikanern und Briten nicht gelungen war, die Bombe zu bauen. In den Farm-Hall-Protokollen findet sich, wenige Stunden nachdem die Internierten vom Atombombenabwurf auf Hiroschima erfahren haben, eine zynische Bemerkung von Otto Hahn: „Falls die Amerikaner eine Uranbombe haben, seid ihr alle zweitklassig.“ Vor diesem Hintergrund wird alles, was die Wissenschaftler nach dem Krieg über ihre Tätigkeit im Uranverein sagten und schrieben, zu einem vielfach interpretierbaren Text. So entstand auch die (von Heisenberg beförderte) von Robert Jungk in dem Buch „Heller als tausend Sonnen“ verbreitete Lesart, Heisenberg und Carl Friedrich von Weizsäcker hätten den Bau der Bombe mit falschen Berechnungen sabotiert.

Dass das Objekt der Beobachtung sich mit dem Blick des Beobachters verändert – diese Einsicht verdanken wir Heisenberg und seiner Unbestimmtheitsrelation. Er selbst wird zum besten Beweis seiner eigenen These: Jeder Beobachter gelangt bei ihm zu einem anderen Ergebnis. Verklärte Jungk ihn zum heimlichen Widerstandskämpfer, so beschreibt ihn der Amerikaner Paul Lawrence Rose in seinem soeben auf Deutsch erschienenen Buch „Heisenberg und das Atombombenprojekt der Nazis“ als überheblichen „typisch deutschen“ Wissenschaftler und als Repräsentant der „tiefsinnigen deutschen Kultur“. Aus reiner Arroganz, so Rose, sei Heisenberg am Bau der Bombe gescheitert und habe daher im Nachhinein versucht, sich als von moralischen Überlegungen geleitet darzustellen.

Jungk hat seine Heisenberg-Legende später revidiert. Rose scheitert in seinem polemischen Buch an der Bestimmung des „deutschen Wesens“. Frayn und Volpi haben als Literaten den großen Vorteil, dass sie sich nicht auf eine Version festlegen müssen. Den „zweiten Bewegungssatz der Erzählung“, den Volpis Ich-Erzähler im Roman aufstellt und der besagt, dass jeder Erzähler nur eine einzige Wahrheit anbietet, hat der Autor selbst mit seinem Roman widerlegt.

Jorge Volpi: „Das Klingsor-Paradox“. Aus dem Spanischen von Susanne Lange. Klett-Cotta, Stuttgart 2001,510 Seiten, 49 DMMichael Frayn: „Kopenhagen“.Wallstein Verlag, Göttingen 2001,270 Seiten, 38 DMPaul Lawrence Rose: „Heisenberg und das Atombombenprojekt der Nazis“. Aus dem Englischen von Angelika Beck. pendo Verlag, Zürich 2001,500 Seiten, 58 Mark