WIR BRAUCHEN DEN FLÄCHENDECKENDEN GANZTAGSUNTERRICHT
: Rabeneltern mit schlechten Schülern

Das ist kein Zufall. Deutschland ist eines der wenigen Länder, in denen die Schulen nur vormittags geöffnet sind. Gleichzeitig zählt die Bundesrepublik weltweit zu jenen Staaten, in denen die Schüler am wenigsten lernen – so das niederschmetternde Ergebnis des internationalen Vergleichs „Pisa“, den die OECD heute in Berlin vorstellt.

Über die flächendeckende Einführung der Ganztagsschule wurde hierzulande bislang nicht ernsthaft diskutiert. Das hat nicht nur mit den zusätzlichen Kosten für den erweiterten Unterricht zu tun. Das überkommene Modell der Halbtagsschule verdankt sein Überleben vielmehr einem ideologischen Familienverständnis, das in Deutschland noch immer viele Anhänger hat. Leute, die ihre Kinder ganztags in fremde Hände geben, gelten als „Rabeneltern“ – ein Wort, das es in anderen Sprachen gar nicht gibt.

Während der Hälfte des Tages ist der Nachwuchs folglich dem Einfluss seines sozialen Milieus ausgeliefert. Wer in einem bildungsbürgerlichen Haushalt lebt, hat Glück gehabt. Wer aus bildungsfernen Schichten stammt, muss auf Förderung verzichten. Das ist eine Verschleuderung von Talenten, die sich ein Land in der modernen Wissensgesellschaft nicht leisten kann.

Aber auch für die Lehrer ist es an der Zeit, sich von ihrem überkommenen Berufsmodell aus jenen Zeiten zu verabschieden, als der „Gymnasialprofessor“ eine Art Privatgelehrter war. Noch immer erscheinen die Pädagogen nur zum Unterricht in der Schule und verbringen den Rest ihrer Arbeitszeit als Einzelkämpfer zu Hause.

Das ist unprofessionell, weil es viel zu wenig Austausch zwischen den Kollegen gibt. Es ist uneffizient, weil eine gemeinsame Vorbereitung des Unterrichts viel wertvolle Zeit sparen würde, die bei der Betreuung der Schüler fehlt. Es ist ungerecht, weil zum Beispiel ein Deutschlehrer viel mehr Zeit für die Vor- und Nachbereitung braucht als ein Mathematiklehrer. Und schließlich würde eine Vollzeitpräsenz die Lehrer vom Makel befreien, den „bestbezahlten Halbtagsjob“ innezuhaben.

Ganz allmählich sprechen sich die Vorzüge der Ganztagsschule herum. Doch wo die Familienideologen auf dem Rückzug sind, treten die Finanzminister auf den Plan. Sie fürchten, dass der ganztägige Unterricht doppelt so teuer kommt wie der halbtägige. Bei einem vernünftigen Arbeitszeitmodell für Lehrer muss das nicht sein. Ganz ohne zusätzliche Kosten wird es allerdings nicht gehen. Aber die Bildungspolitiker sollten den „Pisa“-Schock nutzen, um dieses Geld endlich aufzutreiben. RALPH BOLLMANN