Nackte Tiger unterm Hakenkreuz

■ Der Musical-Klassiker „Cabaret“ als zynischer Tanz auf dem Vulkan im Bremer Theater

„Cabaret“ hat fast auf den Tag genau vor 35 Jahren am Broadway Premiere gefeiert. Auch die Verfilmung mit Liza Minelli ist fast 30 Jahre alt, und dennoch hat das Musical kaum Staub angesetzt. Das liegt nicht nur an den zwei, drei Ohrwürmern, die jeder mitsummen kann, es hängt vielmehr mit der genial einfachen Konzeption der Story zusammen: Je bedrohlicher die Zeiten, desto größer die Vergnügungssucht.

Christopher Isherwood erzählt in seinem dem Libretto zugrunde liegenden Roman „Goodbye Berlin“ von dem amerikanischen Schriftsteller Clifford, der in Berlin in einer armseligen Absteige unterkommt, die amerikanische Nachtclubsängerin Sally kennen lernt und angesichts der drohenden Machtübernahme Deutschland wieder verlässt. Sally indes bleibt in Berlin, sie entscheidet sich für die Karriere.

Eine Inszenierung, die die Dialektik von Spaßkultur und Unkultur ernst nimmt, kann aus diesem Stoff trotz seiner klischeehaften Figuren starke Bilder machen, und genau das ist Baumann - Regisseur und Darsteller in einer Person - gelungen. Wenn er anfangs als Conférencier in Frack und Zylinder auf der abgedunkelten, leeren Bühne erscheint, erinnert er an das maskenhaft bleiche Clownsgesicht von Gründgens Mephisto.

Der Conférencier ist ein trauriger Zyniker, der später in einer Polit-Satire als Kind im Nachthemd bitterböse über den guten Onkel Adolf herzieht. Da ihm die Zeiten immer mehr die Sprache rauben, tanzt er mit dem Gorilla (Bernard Rüfenacht). Diese Linien ins gefährliche politische Dunkel zieht Helmut Baumannn konsequent durch.

Den Triumph der Nazis zeigt Baumann mit den Mitteln ihrer theatralisch pompösen Ästhetik: Ernst Ludwig (Jan Andreas Kemna), der kleine Gauner, steht am Ende des ersten Akts im Braunhemd auf einem Podest, das sich langsam meterhoch über die Bühne hebt. Er reckt den Arm zum edelkitschigen Volkslied („Der morgige Tag ist mein“), während hinter ihm ein monströs großes Plakat mit der Hand des Führers hochgefahren wird. Am Ende wird Sally Bowles auf demselben Podest „Life is a cabaret“ singen, während die Massen unter ihr die Hand zum Führergruß heben.

Das Bühnenbild (Jörg Zimmermann und Katja Jürgens) verbindet elegant die großen und die kleinen Schauplätze. Umrahmt von einem typischen Berliner Hinterhof verwandelt sich die Nachtclubbühne mit raffinierter Illumination in fließenden Wechseln zum Gemüseladen, in dem die Nazis Feuer legen, und zu den engen Räumen der Zimmerwirtin, die mit Sorgfalt im Stil der dreißiger Jahre eingerichtet sind.

Die spritzigen Choreografien (Jaqueline Davenport und Claudio Bueno) mit sparsam bekleideten Damen und halbnackten Männern in Tigerkostümen werden im Verlauf des Geschehens immer grotesker und düsterer. Sehr Überzeugend gelingt in den intimen Zwischen-Szenen die Begegnung zwischen den beiden Alten, dem jüdischen Gemüsehändler Herrn Schultz und der Zimmerwirtin Fräulein Schneider.

Thomas Kylau gibt den liebestrunkenen Witwer anrührend komisch, wenn er seiner Verlobten vergeblich eine Ananas aufschneiden will und mit tiefer Würde, wenn er dem Nazi Ernst Ludwig sein jiddisches Lied „Miesnick“ entgegenschleudert.

Eva Gilhofer spielt die alte Jungfer mit allen Facetten einer verhärmten Frau, die dem Druck der Nazis nachgibt und die Verlobung auflöst. Ihr Gesang ist ebenso hochdifferenziert wie gefühlvoll. Sie ist - neben Ruth Brauer als Sally - der heimliche Star dieses Abends.

Ruth Brauer sieht nicht nur aus wie Liza Minelli, sie singt fast genauso strahlend und tritt genauso temperamentvoll auf. Ihre Gesangsnummern - in Englisch und Deutsch - gehören zu den Höhepunkten des Stücks. Brauers ausdrucksstarke Stimme lässt vergessen, dass das Zusammenspiel mit Gido Schimanski als Cliff weniger gelingt: Die Figur des naiven Jungen aus Amerika, der die Berliner Verhältnisse befremdet beobachtet, ist eine gute Idee, aber eine Schwachstelle des Musicals.

Der Librettist Joe Masteroff lässt ihn Sprechblasen sagen, und Schimanski - eher very british als amerikanisch - ist kaum in der Lage, sich aus dem hölzernen Korsett zu befreien.

Baumann stellt den Chor in eine Reihe und zum süßen Gesang taucht im nächtlichen Berlin eine glatzköpfige Bande auf, die eine blonde Frau bedroht, verprügelt und entkleidet. Da liegt ein Transvestit am Boden, niemand rührt die Hand, der schöne Gesang geht weiter, am Ende siegt die Hakenkreuzfahne, am Ende ist Sally Bowles eine Marionette der Nazis und der Conférencier zuckt mit den Schultern: „Gute Nacht!“

Helmut Baumann hat sich mit seiner Inszenierung in jeder Hinsicht gegen die kleine Form entschieden, auch musikalisch: „Cabaret“ in Bremen ist aufwendig in Szene gesetztes, großes Musiktheater. Großer Jubel bei den sonst eher zurückhaltenden Hanseaten. Die Stadt hat ihr neues Musical gefunden.

Hans Happel

Weitere Vorstellungen im Dezember: 5., 8., 12., 20., 23., 26., 29., 31. jeweils 19.30 Uhr, Karten unter Tel.: (0421) 36 53 333