berliner szenen
: Ingenieure der Zukunft

Erinnerung zu vermieten

Wer hat diese Stadt erbaut? Wann und wie? Mein Großvater hat es getan, in meiner Erinnerung und in der Wirklichkeit. Geschichte wollte er studieren, als der Krieg vorbei war. Aber Geschichte war nichts wert damals. Also wurde er Bauingenieur. Bauingenieure müssen die wahren Architekten gewesen sein, in einer Zeit, als die Häuser aus den Trümmern der anderen Häuser wieder zusammengesetzt wurden. Und als dann die Straßenzüge noch immer voller Lücken waren, ging man daran, auch diese zu füllen. So arbeitete mein Großvater am Bau der Stalinallee mit, an den „Palästen für das Volk“. Oft hat er mir erzählt, wie verärgert er im Winter 1952 gewesen sei, als die ersten Bauten auf Teufel komm raus fertig werden sollten. Die schönen Kacheln für die Fassade wurden noch eilig nach dem ersten Frost angeklebt, sodass sie wenige Tage nach der Einweihung wieder herunterfielen. Es scheint, als ob die ganze Geschichte Berlins aus solchen merkwürdigen Anekdoten besteht. Die Leute tragen alle ihren persönlichen Stadtplan im Kopf. Wenn ich jetzt durch die Stadt gehe, fühle ich mich wie die Alten, die in all den Jahren zur Wilhelm-Pieck-Straße Elsässer Straße sagten. Jetzt heißt sie Torstraße, aber mir fällt immer der Name aus Kindertagen ein. Seit neustem muss man sich aber nicht mehr mit den vertrackten Erinnerungen rumschlagen; es geht nun alles viel einfacher: „Mieten Sie sich Ihr Stück Geschichte. Hier im Zentrum Berlins“. Ein überdimensionales Plakat hängt an dem frisch sanierten Haus Friedrichstraße/Ecke Zimmerstraße. Es war mal ein Teppichkontor, ist im Prospekt der Immmobilienfirma zu lesen – aber das kann man, wenn man den Mietvertrag später wieder kündigt, sicher einfach vergessen.

ILKA SCHAARSCHMIDT