Ein sanfter Polterer

Edmund Stoiber gibt in Dresden den Staatsmann und präsentiert sich als Anwalt der kleinen Leute

aus Dresden PATRIK SCHWARZ

Edmund Stoiber ist einfach schwer einzuschätzen. „Da? Oder da?“ Der Kameramann ist verwirrt. „Irgendwo muss er ja reinmarschieren.“ Ein gutes Dutzend Leute umfasst der Fernsehpulk, der auf den Schlitz in der CDU-blauen Wandbekleidung starrt, mit dem die trübe Messehalle in Dresden bespannt ist. Das kleine Schild darüber zeigt ein Männchen, das die Beine in die Hand nimmt und flieht– doch ein Edmund Stoiber kommt nicht durch den Noteingang.

Wenn es um den CSU-Chef geht, haben auch die Delegierten auf dem CDU-Parteitag Orientierungsprobleme, allerdings politische. Was will Edmund Stoiber? Sechseinhalb Minuten Beifall hat seine Konkurrentin um die Kanzlerkandidatur am Vortag für ihre Rede erhalten, danach waren sich die Delegierten weitgehend einig: Angela Merkel will Stoiber nicht nur ausstechen – sie hat auch wieder die Chance dazu. Bei dem CSU-Chef zweifelt kaum ein Christdemokrat, dass er ein tauglicher Kandidat wäre – doch groß ist das Rätseln, ob er sich überhaupt aus seinem bayerischen 50-Prozent-Idyll auf den Weg nach Berlin machen möchte.

Noch ehe der bayerische Ministerpräsident im Saal ist, hat sich die Erwartung der Delegierten darum auf eine Frage zugespitzt: Wie hält es Stoiber mit der Handbremse? „Er muss mit angezogener Bremse reden“, sagt ein Christdemokrat beim Bier während des Delegiertenabends, „aber ohne dass es raucht.“ Wenn der Bayer, so lautet die vielfach vorgetragene Überlegung, zu deftig sein Interesse an der Kanzlerkandidatur bekundet, wenn er es in Dresden gar auf einen politischen Schönheitswettbewerb mit Angela Merkel anlegt, dann werden sich die Delegierten schon aus Solidarität mit ihrer Vorsitzenden identifizieren. Umgekehrt darf er sich nicht zu stark zurücknehmen, sonst erweckt er den Eindruck, schon aus dem Rennen ausgestiegen zu sein. Andere einflussreiche CDUler halten diese Kalkulation, die angeblich auch in der Münchner Staatskanzlei erwogen wurde, für Unfug. „Er muss seinen bajuwarischen Stil hier reinbringen“, sagt Friedhelm Biestmann aus Niedersachsen. „Wenn Stoiber nicht mehr Stoiber ist, dann kommt er sowieso nicht in Frage.“ Und ein Bundestagsabgeordneter meint: „Bei der Vierschanzentournee kann man nicht sagen, den ersten Sprung mache ich mit angezogener Handbremse. Wenn Stoiber jetzt keine fulminante Rede hinlegt, werden die Leute sagen, er will nicht.“

Schwierigeren Erwartungen kann ein Redner kaum gegenüberstehen: „Gasgeben!“, rufen die einen, „abbremsen!“ die anderen. Dass es in der CDU durchaus auch Vorbehalte gegen den Mann aus dem Süden gibt, bekommt der Delegierte Harald Noack aus Göttingen zu spüren, der während Stoibers Einzug in den Saal gerade zum Thema Frauenquote spricht. Als Noack den Bayern mit dem Satz begrüßt, jetzt werde auf die gute Rede von Friedrich Merz „eine noch bessere von Edmund Stoiber“ folgen, buht das Publikum. Der Bayer ist bei der CDU ein gern gesehener Gast, aber eben nur Gast – auch wenn er selbst sich zunächst um die Rolle nicht schert, sondern eher wie der neue Hausherr auf der Bühne herumspaziert.

Umso maßvoller gerät ihm seine Rede. Die rhetorischen Verbeugungen vor „der lieben Frau Merkel“ fallen so tief aus, dass es nicht Wunder nähme, würde der Mann auch noch seine 1,85 Meter vor ihr verneigen. Überhaupt geht Stoiber mit dem Zwiespalt zwischen Gasgeben oder Abbremsen geschickt um: Wer von den Delegierten Stoiber für den Bierzelt-Edi gehalten hat, den rumpelnden Dauerwahlkämpfer, der lernt in Dresden einen neuen Stoiber kennen, einen Stoiber für Deutschland. Die Zahl seiner nachdenklichen, zum Teil beschwörenden, manchmal sogar geflüsterten Sätze übersteigt deutlich die Polter-Passagen. Hier will einer Kompetenz dokumentieren, vor allem in der Wirtschaftspolitik. Seine Zurückhaltung lässt Edmund Stoiber nicht schwach aussehen, denn sie gibt ihm staatstragendes Gepränge.

Jetzt hat der CSU-Chef höchstens ein neues Problem: Er ist mehr Kanzler als Kanzlerkandidat. Selbst als er Gerhard Schröder die neuesten Kündigungswellen vorhält, verliest er die Zahlen wie Totenehrungen: „. . . Siemens 17.000, Opel 2.000 . . .“ Und auf den stärksten Beifall setzt er nicht mit seinen Passagen zur Zuwanderung oder inneren Sicherheit. Das Herz von Stoibers Rede ist vielmehr sein Bemühen um das, was er selbst „die absolute Geschlossenheit“ von CDU und CSU nennt. Dazu gehört die gespielte Bescheidenheit, wenn er die Christdemokraten als „große Schwester“ bezeichnet, dazu gehört sein Werben um den starken Arbeitnehmerflügel in der CDU. Gewiss, seine Regierung mache auch Politik für Siemens, Allianz und BMW, ruft der Ministerpräsident „aber die CSU hat sich immer als Partei der kleinen Leute verstanden.“ So stark wie hier wird der Beifall nur noch, als er zum Schluss erklärt, er stelle sich ganz in den Dienst „der Gemeinschaftsaufgabe“ von CDU und CSU – ob als Kanzlerkandidat, ließ er offen.

Der Mann, der so gerne Kanzler wäre und so ungern Kandidat, hat deutlich gemacht, wie er sich die Zukunft vorstellt: Wenn alle für Stoiber sind, dann ist auch Stoiber für Stoiber. Reicht ihm der Jubel in Dresden dafür aus? Der CDU-Versammlungsleiter auf dem Podium immerhin weiß genau, was er nach Stoibers Rede will: den Applaus im Saal nach exakt den sechseinhalb Minuten beenden, die Angela Merkel am Montag bekam. Es gelingt ihm nicht wirklich.