Eine Schule für immer und alle

■ Alle reden über PISA und die Folgen: Erziehungswissenschaftlerin Professor Barbara Schenk wünscht sich eine Bildungspolitik, die zur Abwechslung mal in die Zukunft gerichtet ist

taz hamburg: Was erwarten Sie von der neuen Regierung, ihrer Bildungspolitik und den Auswirkungen auf Hamburgs Schulen?

Barbara Schenk: Kaum sehr viel. Ich denke, Bildungspolitik hat erstaunlich wenig Einfluss darauf, wie sich Schule entwickelt. Traditionell hinkt Schule den Anforderungen des gesellschaftlichen Sys-tems weit hinterher. Reformen sind meist nur Reaktionen auf Lücken der Vergangenheit.

Wollte man nach vorn gerichtete Schulpolitik machen, wie müsste Schule dann aussehen?

Das müsste eine Gesamtschule sein. Und zwar eine für die gesamte Schulzeit. Darin könnte man die Reste des dualen System durchaus erhalten. Eine Schule für alle.

Warum?

Weil die Möglichkeiten, dass Jugendliche sich auch noch im Alter von 14 oder 16 Jahren weiterentwickeln, einfach zu groß sind. Und ich denke, die Organisation für gesellschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, die OECD, hat Recht wenn sie sagt, dass wir mit unserer Förderung von Akademikern weit hinter dem Standard zurück sind. Natürlich bieten wir den zweiten Bildungsweg an, aber das ist nur etwas für Leute mit extrem viel Power. Der gymnasiale Weg ist doch der leichte Weg. Die Versuche, immer wieder einzugrenzen und schon in Klasse vier festzulegen, wo die Reise hingeht, sind viel zu voreilig. Und außerdem entspricht es meiner Vorstellung von Demokratie, dass Menschen lernen müssen, miteinander zu reden.

Warum glauben Sie, wird momentan so viel über Eliten geredet?

Ich denke, Eliten bilden sich in dieser Gesellschaft, das hängt mit unserem Wirtschaftssystem zusammen. Elite ist eine Gruppe, die mehr Verantwortung und damit mehr Macht übernimmt als andere. Aber es gibt nicht den geringsten Grund, das schon in der Schule ausbilden zu wollen. Ich verstehe, dass wir in Zeiten internationaler Konkurrenz auch in die anderen Länder gucken und eine gute Ausbildung fordern. Aber weder die Schule noch die Universität ist eine Anstalt zur Bildung von Eliten.

Wo bilden sich Eliten?

In den Arbeitsprozessen.

Gänzlich unabhängig von dem, was ich in der Schule gelernt habe?

Das hängt davon ab, was ich unter Elite verstehe. Ich kann als Betriebsrat, als Mensch, der Maurer gelernt hat, in meiner Firma Verantwortung übernehmen, mich um die Belange meiner Kollegen kümmern, und das ist mindestens so wichtig wie die Verantwortung, die Menschen mit weißen Hemden in der Bank haben.

Warum ist diese Abkehr von dem Ansatz zu beobachten, dass alle so viel Bildung wie möglich erhalten sollen?

In einer Gesellschaft, in der es Langzeitarbeitslosigkeit und eine starke Unterteilung zwischen Arm und Reich gibt, braucht es eine Legitimation, eine Begründung dafür, dass es Arme und Reiche gibt. Elitebildung hat ja immer auch die Kehrseite, beispielsweise zu den Hauptschülern zu sagen „ihr gehört nicht zur Elite, aber ihr habt selber schuld, ihr hattet ja alle Chancen“. Ich denke, es ist immer ein enormes Meinungsspektrum in der Gesellschaft vorhanden. Im Moment wird diese Meinung eben besonders gefördert und gehört. Wenn man das deutsche Schulsystem aber im internationalen Vergleich sieht, dann stellt man fest, dass es die Schule für alle längst gibt. Es gibt sie praktisch überall. Deutschland, Österreich, Schweiz mit ihrem dreigliedrigen Schulsystem und der frühen Form der Selektion sind Ausnahmen. Ich glaube außerdem, dass die Integration in Europa dafür sorgen könnte, dass unser duales Ausbildungs- und das dreigliedrige Schulsystem zusammenbrechen werden, und es dann die Schule für alle von der Grundschule bis zum Gymnasium, inklusive Berufsschule geben wird.

Was denken Sie wird die Ankündigung, das Abitur nach zwölf Jahren einzuführen, in den Schulen ändern?

Grundsätzlich wird das nichts ändern. Man kann auch nach zwölf Jahren Abitur machen. Es könnte klug sein, die Gesamtschulen bei 13 Jahren zu belassen und so eine Wahlmöglichkeit zu schaffen für die, die ihren Kindern die Zeit lassen wollen.

Glauben Sie, dass künftig weniger Jugendliche das Abitur schaffen, weil sie weniger Zeit für den gleichen Stoff haben?

Ich vermute, dass der Elternwille reichen wird, das zu verhindern: Nachhilfe wird dafür sorgen, dass die Kinder es schaffen. Oder eben Sitzenbleiben, das wird es auf dem Gymnasium ja weiterhin geben, wenngleich das auch eine besonders törichte Form der Zeitverlängerung ist, weil man ja das Gleiche noch einmal durchmacht.

Und was halten Sie davon, Kindern schon vor der Einschulung Deutschunterricht zu verordnen?

Ich halte sehr viel davon, dass man den Kindern eine Chance gibt Deutsch zu lernen, aber ich sehe da noch keine finanziellen Mittel bereit gestellt. Ich kann mir gut vorstellen, Migranten und Einwanderern zu ermöglichen, dass ihre Kinder Deutsch lernen. Ich kann mir auch gut vorstellen, dass die das annehmen. Aber das wird man finanzieren müssen. Zu sagen, dass jedes Dreijährige Deutsch lernen soll, ist zu einfach.

Auch bei den Gesamtschulen will die neue Koalition etwas ändern. Die sollen künftig nicht mehr Geld bekommen als Haupt- und Realschulen. Noch bekommen sie so viel wie Gymnasien, weil sie besondere Integrationsaufgaben wahrnehmen. Tun sie das tatsächlich?

Ich denke, dass die Gesamtschule da wirklich etwas leistet. Vor einigen Jahren hat es dazu zwar eine Untersuchung vom Max-Planck-Institut gegeben, wonach die Gymnasiasten eine größere soziale Kompetenz hatten als Gesamtschüler, aber dabei ist meines Erachtens völlig außer Acht geblieben, dass es die Gesamtschule mit einer viel heterogeneren Schülerschaft zu tun hat. Und sie haben mehr Kinder, die unter schwierigen Verhältnissen aufwachsen, denn es ist im Bildungsbürgertum durchaus verbreitet, zwar für die Gesamtschule zu sein, aber das eigene Kind dann doch auf das Gymnasium zu schi-cken. Das heißt, auf der Gesamtschule müssen die Schüler mehr soziale Kompetenz entwickeln, da leisten diese Schulen enorm viel.

Sie finden es also richtig, dass Gesamtschulen finanziell wie Gymnasien ausgestattet werden sollen?

Das sowieso. Sie müssen in der Mittelstufe besser als Gymnasien ausgestattet sein. Dieser ständige Austausch der Lehrer im Kurssys-tem kostet doch enorm viel Zeit. Auf dem Gymnasium kann doch ein Lehrer der Sekundarstufe I so ziemlich seinen Stiefel machen und muss das höchstens vor dem Kollegen verantworten, der die Schüler in der Oberstufe übernimmt. Auf der Gesamtschule müssen die Kollegen wegen des durchlässigen Kurssystems in ständigem Austausch sein.

Was halten Sie von der Aufhebung des Stadtteilprinzips, so dass Eltern ihre Kinder an einer beliebigen Grundschule anmelden dürfen?

Schulen haben in den Stadtteilen zum Teil Sozialarbeit übernommen und damit einen Beitrag geleistet, dass diese Stadtteile nicht verslumen. Beispielsweise die Bruno-Tesch-Gesamtschule in Altona und das Schulzentrum Steilshoop leis-ten großartige Arbeit, aber das sind nur Beispiele. Durch das neue Prinzip riskiert man, dass Eltern schon bei der Wahl der Grundschule sagen, diesen Anstrengungen soll sich mein Kind nicht unterziehen. Das ist das Gleiche wie mit Gesamtschulen und Gymnasien. Im Prinzip finden die Eltern das gut, aber das eigene Kind soll es leichter haben. Bildungsbewusste Eltern werden ihre Kinder in die „guten“ Schulen chauffieren; und es besteht das Risiko, dass Restschulen übrig bleiben, die nur von Kinder aus hochbelasteten Familien besucht werden, die sich nicht so intensiv um ihre Kinder kümmern können. Solche „Restschulen“ müssen dann intensive sozialpädagogische Arbeit leisten. Und ich sehe nicht, dass diese Regierung in diese Schulen dann das nötige Geld steckt. Gerade diese Regierung wird eher dazu neigen, die Renommierschulen herauszustellen.

Interview: Sandra Wilsdorf