Aktualisiertes Spiel um Vergeltung

Wenig Shakespeare, viel Welles: „Othello – Ein Blue Movie“ im Neuen Cinema  ■ Von Annette Stiekele

Ein Theaterstück als Film – seit Orson Welles an sich nichts ungewöhnliches. Seine Shakespeare-Verfilmung des dämonischen Othello-Stoffes ist legendär. Dennoch höchst eigensinnig, was der Schweizer „Kreativschmiede 400 asa“ um den Schauspieler und Autor Samuel Schwarz und seinen Kompagnon Lukas Bärfuss beim Experiment Othello – ein Blue Movie im Neuen Cinema dazu einfiel.

Zunächst wird der Zuschauer kräftig enttäuscht und vor noch mehr Enttäuschung gewarnt: Das Stück entspricht nicht den Ankündigungen. Es gibt keinen fertig geschnittenen Othello-Film am Ende, der an den meistbietenden versteigert wird, sondern eine große Gala, die aber erst im kommenden Jahr, verkündet der Schauspieler Ingo Heise am Mikrophon. Dazu streicht er über seine Punk-Wave-Kluft aus schwarzer Spitze, schweren Boots und verwegenem Make-up. Das Stück wurde erst zum Film, dann zum Film ein Drehbuch erstellt und anschließend das Drehbuch wieder in einen Film verwandelt. „Wir finden das, was wir machen, spannend. Wenn Sie es nicht mögen, ist uns das egal.“ Klare Worte.

Und Heise wird noch deutlicher. Wer sich langweilt, solle bitte einfach den Raum verlassen, aber ohne „die an diesem Hause üblichen Zornesbekundungen“. Die waren gar nicht nötig. Denn Schwarz/Bärfuss und ihrem aufgeweckten Ensemble gelang eine sehr muntere Adaption des Stoffes, die die dramatische Struktur mit filmischen Mitteln offen legte und geschickt mit der Filmkunst des Orson Welles verwob. Da stehen sie erst in einer Reihe an der Wand und rattern die so genannte „Kurze Fassung“ von Lukas Bärfuss herunter, die jedoch in der Tat „der kriegerischen Substanz“ entspricht. Das Tempo ließ den Atem stocken. Beeindruckend vor allem Thomas Kügel als Jago. Alle sind in einer Mischung aus 80er-Wave-Trash gekleidet, haben bleiche Gesichter und schwarz umrandete Augen. Geradezu filmisch stilisiert wirken jedoch Gestik und Mimik.

Nach kurzer Umbauphase wandelt sich die Bühne in ein Filmset. Techniker wuseln herum, und aus dem Off tönt die ruhige Stimme der „Aufnahmeleiterin“ Lene Toftdahl Markusen. Das Ganze beginnt noch einmal, diesmal vor einer Leinwand mit Videoprojektionen; die Darsteller immer geblendet vom Scheinwerferlicht und behindert durch ein riesiges Mikrophon. Hinter ihnen entstehen durch Überblendungen surreale Bilder, wie man sie aus Welles' Filmen kennt.

Nach dem anfänglichen Chaos findet die Inszenierung zu dramatischer Spannung. Thomas Kügel als Jago ist ein Bösewicht mit schmeichelnder, schneidender Stimme, eiskalt und berechnend. Er ist einer, der ja sagt und nein meint. „Das ist der Krieg“, kommt eine Anspielung auf die derzeitige Weltlage. Philipp Stengele sieht in seiner bärtigen Maske geradezu wie ein Wiedergänger von Orson Welles aus. Mit seinem finsteren Blick erobert er das Herz der schönen Desdemona. Patrycia Ziolkowska gibt sie als starke Frau mit leicht irrem Blick.

Als die Türken vor der Stadt liegen, bekennt sie sich zu Othello vor ihrem Vater, der die Verbindung missbilligt. Othello erhält den Oberbefehl über die Truppen Veneziens. Doch nach dem Sieg über die Angreifer geht das Unheil erst richtig los, der eifersüchtige Jago streut mit Erfolg Zwietracht und Miss-trauen und bringt den verliebten Othello am Ende so weit, dass er Desdemona für eine Ehebrecherin hält und sie im Ehebett erwürgt.

Deren Haushälterin Emilia singt kurz vor dem eigenen Ende: „Sie war ein Mädchen so rein/und es war Krieg, ja es war Krieg (...) Er hat's nicht geglaubt / hat ihr nicht getraut / im Krieg, im schlimmen Krieg!“. Anspielungen gibt es zur Genüge, und auf der Klaviatur des ewigen Spiels von Hass und Vergeltung spielt auch Shakespeare. Da ist die Rede von den Türmen, die einstürzen und Vögeln, die vom Himmel fallen. Den Kriegsfall nutzt Jago sogleich, um „uneingeschränkte Solidarität“ zu bekunden. Und doch, als am Ende der Dreh vorbei ist, das Filmset sich auflöst, hat man einen ganz neuen Othello entdeckt, ohne Shakespeare, aber mit Orson Welles. Experiment gelungen.

weitere Vorstellungen: heute, Do., 27. + Sa., 29.12., 20 Uhr, Neues Cinema