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die vorweihnachtsgefühle verschwinden
: Sogar der Nebel wurde uns genommen

Neulich wurde an dieser Stelle über die Verrücktheit der Welt und das Fehlen jeglichen Vorweihnachtsgefühls gesprochen. An der universellen Verrücktheit hat sich natürlich innerhalb von zwei Wochen kaum etwas geändert, aber immerhin ist es ab dem ersten Dezember schlagartig Winter geworden – nicht meteorologischer, sondern gefühlter Winter, versteht sich. Ein hundertprozentiges Vorweihnachtsgefühl will sich aber trotzdem nicht recht einstellen. Es liegt daran, dass uns die schönen vorweihnachtlichen Rituale abhanden gekommen sind. Zwar werden immer mehr sinnlose Festtage wie Halloween und Valentinstag bei uns eingeführt, die echten Vorweihnachtstraditionen verschwinden aber immer mehr.

Wo werden am 4. Dezember noch Barbarazweige geschnitten, die dann an Heiligabend blühen, wo werden noch Plätzchen gebacken? Wo verstecken sich die Kinder noch am 6. Dezember vor Angst unterm Tisch, werden von den Eltern hervorgezerrt, bekommen von einem verkleideten Nachbarn ein paar herzhafte Schläge mit der Rute und nach der Läuterung drei Orangen und einen Schokoladennikolaus?

Sogar den Nebel hat man uns genommen. Wie schön war es, als man in den 80ern noch ab Mitte Oktober durch völlig nebelverschleierte Straßen lief und der besondere Geruch der Kohlenheizungen in der Luft hing. Der Ku’damm lag in Milch gebadet, und die Weihnachtsbeleuchtung am KaDeWe ließ sich nur erahnen. Richtung Osten wurde die Luft immer undurchsichtiger und der Geruch immer intensiver, was angeblich an der schlechten Ost-Kohle und den Trabi-Abgasen lag. Aber durch die Verbesserung der Luftwerte hat man uns auch dieses romantische Wintergefühl genommen, schuld sind auch hier die Grünen mit ihrer protestantischen Weltentzauberung.

Um das Vorweihnachtsgefühl mußss man sich 2001 selbst kümmern, das heißt neue, eigene Rituale erfinden. Zum Beispiel kann man Mitte Dezember bereits damit anfangen, Adressen und Telefonnummern in den neuen Kalender für 2002 zu übertragen. Da muss bei jeder Eintragung überlegt werden: Wie sieht es mit dieser Bekanntschaft aus, ist sie es wert, ins neue Jahr mitgenommen zu werden?

Auf diese Weise lässt sich die Zeit an einem trüben Dezembertag die Zeit prima von A–Z vertreiben und das Jahr Revue passieren lassen. Ein anderes schönes Ritual schenkt uns das Fernsehen: die Jahresrückblicke der verschiedenen Sender. Der Favorit der Jahresrückblicke ist natürlich der öffentlich-rechtliche Rückblick.

Es kann natürlich sein, dass auch hier nichts mehr ist, wie es früher war, sprich: es werden wegen der schrecklichen Ereignisse des 11. Septembers die Jahresrückblicke abgeschafft, weil alle anderen Ereignisse des Jahres nicht würdig sind, neben den schrecklichen Ereignissen des 11. Septembers zu stehen. Wir werden sehen.

Auf noch ein Ritual können wir uns im Dezember freuen: die Wahl zum Wort des Jahres. Ich würde wetten, dass dieses Jahr wegen der schrecklichen Ereignisse des 11. Septembers nicht nur ein Wort, sondern eine ganze Wortfolge des Jahres gewählt wird, nämlich „die schrecklichen Ereignisse des 11. Septembers“. Denn welches einzelne Wort sollte es denn mit „den schrecklichen Ereignissen des 11. Septembers“ aufnehmen können? Terroranschlag, Lichtallergie, Ampelkoalition?

CHRISTIANE RÖSINGER