„Aus Zwang zum Gleichgewicht“

Was von der Zukunft übrigblieb: Die Bilder des Berliner Künstlers Giò di Sera sind ein Kommentar auf die neuen, alten religiösen und kulturellen Konflikte. Ein Gespräch über künstlerische Glaubensbekenntnisse und die dauerhafte Gültigkeit der Ikonen

Interview HARALD FRICKE

taz: Giò di Sera, auf dem Plakat zur Ausstellung ist in großen Ziffern „2001“ zu lesen. War es ein gutes oder ein schlechtes Jahr?

Giò di Sera: Schon von der kulturellen Symbolik her war 2001 immer ein wichtiges Datum, an dem sich die Leute orientiert haben. Jetzt sind wir in dem Jahr angekommen und wir sehen, was es wirklich gebracht hat. Darum geht es bei der Ausstellung: Was verbinden wir mit 2001? Es ist ein Brücke zwischen zwei Jahrtausenden, ein Wechseljahr, dessen Bedeutung sich auch in den Bildern widerspiegelt. Immer hat die Menschheit etwas von diesem Datum erwartet.

Bislang sah Ihre Biografie anders aus: „To stay here is my right“ war eine Initiative für bessere Integrationspolitik, ebenso Radio Kanaka. Da sollten Kulturen zusammengebracht werden. Jetzt gibt es Heiligendarstellungen – ist das ein Rückzug?

Meine Arbeit mit religiösen Themen und Symbolen beruht auf zwei Aspekten, na sagen wir, zweieinhalb. Persönlich hat es mit meinem kulturellen Background in Neapel zu tun, wo ich aufgewachsen bin. Dadurch ist eine starke christliche Prägung zustande gekommen – ob ich will oder muss, spielt keine Rolle. Die andere Sache ist der kunsthistorische Kontext, in dem jede Heiligendarstellung steht. Diese Ansätze vom Künstler und der „heiligen Kunst“ möchte ich erweitern, auch in der Einstellung gegenüber aktuellen Ereignissen.

Als Chronist mit religiösen Vorbildern?

Nein, so dann doch nicht. Ich bin zwar Atheist, glaube aber an die Stärke der überlieferten Ikonografie. Deshalb verwende ich die Zeichen als Mittel, um die Menschen im Heute anzusprechen. Dazu kommt allerdings noch die Zuschreibung, die ich selbst erfahren habe – meine erste Ausstellung in Berlin hieß „Asyl Ikone“, aber da ging es um Befreiung, nicht um eine folklorehafte Assimilation eines Italieners in Deutschland. Und dann war nicht nur bei mir, sondern überhaupt in den letzten zwei, drei Jahren eine starke Tendenz, sich mit Fragen nach Transzendenz zu beschäftigen, die ich nun in meinen Bildern aufgegriffen habe. Das gilt für Ost und West, für das Christentum und für die arabische Welt.

Besteht deshalb ein Bild wie „Paranoia 2001“ auch aus einer Christus-Darstellung auf den Stadtplänen von Berlin, New York oder Neapel?

Ja, weil die großen Konflikte existieren.

Für die es aber keine kulturelle Vermittlung gibt?

In solchen Fällen ist Gott dann wieder hilfreich, so wie er auch einmal in einer solchen Notlage vermutlich erfunden wurde. Diese Vorstellung kann einen beruhigen, sie kann zwar keine rationale, aber immerhin eine religiöse Erklärung für Ereignisse geben. Es ist ein starker Wunsch – vielleicht auch nach Betäubung. Wenn man das politisch werten will, so wie ich es mit meiner Arbeit versuche, dann ist die Botschaft: 2001 – wir sind in der Zukunft angekommen, es gibt Kriege, Religionskonflikte, alles die alte Soße, die wir schon seit Jahrtausenden kennen. Die Themen, die die neue Weltordnung gebracht hat, das sind die Sätze aus dem alttestamentarischen Gesetz oder aus dem Koran: Auge um Auge, Zahn um Zahn.

Dabei war „To stay here is my right“ doch gedacht, solche Auseinandersetzungen aufzulösen. Ist die Integration der verschiedenen Kulturen jetzt vorbei?

Nein, auf keinen Fall. Für mich waren diese Aktivitäten ein Versuch, meine eigenen Erfahrungen aus Neapel oder anderen Orten, an denen ich war, in konkrete Vorschläge umzusetzen. Ich will den Dialog der Religionen und der Kulturen. Auch wenn ich selbst nicht religiös bin, empfinde ich Respekt für Menschen, die sich als religiös verstehen, und versuche mich, mit ihnen zu unterhalten. Das Schlüsselwort ist Respekt, das galt schon für „To stay here is my right“.

Das mag für Kreuzberg funktionieren, aber reicht das als Weltbild?

Gut, Kreuzberg sehe ich als meinen Mikro-Makrokosmos, das ist eben mein Umfeld. Darin habe ich mich eingerichtet wie ein Wissenschaftler in seinem Laboratorium, das er für seine Experimente braucht. Künstlerisch sehe ich mich zwar als Alchemist, aber deshalb bin ich als Mensch doch kein Don Quichotte! (lacht) Bei all meinen Idealen muß ich mich darum kümmern, dass ich Ergebnisse habe. Das sind zwei verschiedene Sachen: Einmal der Künstler und dann der Streetworker aus eigener Initiative – das gehört zusammen. So wie ich ein Bild male, so mache ich Projekte im sozialen Umfeld. Act local, think global, der Spruch gilt auch für mich.

Und von dieser Haltung führt der Weg zu Selbstporträts als Heiliger oder Jesus?

Aber mit Jesuswahn hat das nichts zu tun. Es gibt Filme von Zeffirelli oder Pasolini, die vom Leben Jesus’ handeln. Es gibt Bilder mit meinem Gesicht, die das Thema spielerisch aufnehmen.

Könnte dieser Umgang nicht gerade religiöse Menschen abstoßen, wenn etwa der Heilige Georg blasphemisch auf einem gehäuteten Pferd reitet?

Das Motiv geht auf die Ausstellung „Körperwelten“ zurück – auch ein Bestandteil der Wirklichkeit im Jahr 2001. Ich beobachte die Gegenwart, mehr nicht. Weil ich zugleich aber allein dafür verantwortlich bin, wie ich es sehe, benutze ich mein eigenes Gesicht in den Porträts, um diese Sichtweise zu vermitteln. Dass ich bei alldem Ikonen benutze, liegt an der Bekanntheit der Motive. Ich muss nichts hinzuerfinden, alles ist ja schon da im Bewußtsein der Betrachter. Meine Aufgabe ist es viel mehr, die ganzen Zeichen in eine Balance zu bringen – auf italienisch nennt man das „equilibrio coatto“, den „Zwang zum Gleichgewicht“.

Diese Balance ist bei den Objektkästen, in denen Sie Hochhäuser als Collagen aus Elektronikgeräten zusammenbauen, ziemlich durcheinandergeraten. Kann man nach dem 11. September noch Wolkenkratzer aus Abfall produzieren?

Aber genau darum geht es doch. Spätestens nach dem 11. September wissen wir alle, was für eine Symbolkraft diese Gebäude gehabt haben. Wo liegt denn am Ende der Unterschied zwischen einer Ikone und einem Wolkenkratzer, wenn man die Zeichen eines Systems angreifen will? Das Material, das ich dafür benutze, diese Recycling-Idee von Sperrmüll, das alles ändert nichts an dem Inhalt, der damit repräsentiert wird: Eine Stadtansicht ist nichts anderes als ein Porträt. Gleichzeitig sehen wir Ideale unserer Lebensumstände in der Architektur wieder, sie ist Abbild der Kultur. Dass ich sie aus den Abfällen der Gesellschaft zusammensetze, spiegelt meine Sicht dieser Dinge.

Nun sind Wolkenkratzer Zeichen der Gegenwart, Heiligendarstellungen nicht. Ist das nicht ein sehr weit gespanntes Feld der Auseinandersetzung?

Na gut, die Wolkenkratzer als moderne Darstellung sind aus dem letzten Jahrhundert. Aber der Wunsch, in die Höhe zu steigen, ist so alt wie der Turmbau zu Babel. Ästhetisch gesehen gibt es große Unterschiede zwischen den beiden Arbeiten, aber innerlich hängen sie mit den gleichen kulturellen Erfahrungen zusammen. Vor allem sind beides schöne Ikonen, sie leuchten in allen Farben. So hat die Kirche damals die Leute angelockt, so haben die Städte sie angelockt, so locke auch ich: Kostbarkeit, Schönheit, Ästhetik, das gehört zu unserer postsäkularen Gesellschaft.

Bei den Bildern kommt die Schönheit allerdings aus dem Computer – oder ist das auch ein Ausdruck von Gläubigkeit?

Es sieht wie High-Tech aus, obwohl es doch eigentlich bloß gut und sauber gefertigte Kopien sind. Das paßt zu den Abfällen, wo ja auch Computergehäuse mitverwendet werden. Hier sind es halt – neben den Bildern, die ich selbst gemalt habe – die modernen Farben dieses Jahrhunderts, die der Computer ohnehin besser umsetzen kann. Da habe ich mir gedacht: Warum nicht mit ihm zusammenarbeiten?