Die vermeintliche Diktatur der Gene

Wer ist verantwortlich für menschliche Verhaltensweisen? Für Evolutionspsychologen ist die Anwort klar: Nicht Erziehung und gesellschaftliche Verhältnisse machen uns zu dem was wir sind, sondern das aus grauen Vorzeiten stammende genetische Erbe

von GERRIT BUSCH

Frauen können sich nicht gut orientieren und sie brauchen lang beim Sex. Dafür naschen und plappern sie den lieben langen Tag. Männer dagegen sind mundfaul, hassen das „Vorspiel und anderen Kuschelkram“ und kommen stattdessen in Sekundenschnelle zum Orgasmus. „Wissenschaftlich unbestritten“ seien solche „politisch hinreißend unkorrekten“ Erkenntnisse, war im Stern vor kurzem zu lesen. Als Mammutjäger, so geht das populäre Märchen, randalierten Urmänner durch prähistorische Steppen, während ihre Frauen kindersäugend in der heimischen Höhle warteten.

Die Botschaft: Nicht Erziehung und gesellschaftliche Verhältnisse machen uns zu dem was wir sind, sondern die Diktatur unserer Gene, deren Machtergreifung aus grauer Vorzeit stamme. Bücher wie „Warum Männer nicht zuhören und Frauen schlecht einparken“ von Barbara und Allan Pease erzielen Rekordauflagen damit.

Stichwortgeber für den biologischen Hype ist die sogenannte „Evolutionspsychologie“, die menschliches Verhalten als Ergebnis der „natürlichen Selektion“ analysiert. Begründer sind der Anthropolge John Tooby und die Psychologin Leda Cosmides aus dem kalifornischen Santa Barbara. Allzu platte Anklänge an Fred Feuerstein überlassen sie lieber dem publizistischen Gefolge, denn die Evolutionspsychologie bewegt sich auf vermintem Terrain: Biologische Theorien der Gesellschaft haben schon oft dazu gedient, Unterdrückung und Rassismus zu legitimieren.

In ihrer Theorie berufen sich die Evolutionspsychologen unter anderem auf Erkenntnisse der Hirnforschung. Die „psychologische Architektur“ des Gehirns sei aufgebaut aus verschiedenen „Modulen“, die vererbbare „Programme“ beherbergen. In den Jahrmillionen der Entwicklung habe sich, so die These, eine Programmierung im Gehirn durchgesetzt, die an die Erfordernisse des steinzeitlichen Lebens angepasst sei – und die seien eben für Frauen und Männer unterschiedlich gewesen. Da gibt es im Hirn zum Beispiel den sogenannten „Betrugsdetektor“, den Cosmides in psychologischen Tests entdeckt haben will. Damit können Menschen unkooperatives Verhalten aufdecken.

Geprägt hat diesen Gedanken der britische Biologe Richard Dawkins und seine Theorie des „egoistischen Gens“. Dawkins schreibt Genen ein eigenes „Interesse“ zu. Sie bringen Tiere und Menschen dazu, sich fortzupflanzen und ihre Nachkommen zu pflegen. Organismen sind also quasi ein Vehikel, in dem die Gene über Generationen fortbestehen – eine Sichtweise mit weltanschaulichen Konsequenzen: Gegen den „falschen Glauben“ von „Marxisten, akademischen Feministinnen und Caféintellektuellen“ ruft Linguist Steven Pinker aus: „Blut ist dicker als Wasser“. Und es kommt noch dicker: Die Evolutionspsychologen Randy Thornhill und Craig Palmer interpretieren Vergewaltigung als ein „biologisches Programm“, das sich in der Evolution als erfolgreiche Strategie verschmähter Männchen erwiesen habe. Wer widerspricht ist dumm: „Bei der Frage der Vergewaltigung ist die Wahl zwischen politisch konstruierten Antworten der Sozialwissenschaften und den evidenten Antworten der Evolutionsbiologie im Grunde die Wahl zwischen Ideologie und Wissen.“

Nun haben Thornhill und Palmer keineswegs das Vergewaltiger-Gen entdeckt. Sie stützen sich auf soziologische Studien, und die lassen sich durchaus kritisieren. „Ich hatte schon Teller voll Spaghetti, die klarer strukturiert waren“, spottet die Publizistin Margaret Wertheim und verweist auf andere Studien, denen zufolge sich die Zahl der Vergewaltigung in verschiedenen Kulturen deutlich unterscheide. Daher könne Vergewaltigung wohl kaum als Naturkonstante begriffen werden. Die Argumentation Thornhills und Palmers ergebe nicht mal für sich genommen Sinn: Da zum Beispiel viele Vergewaltigungen innerhalb der Familie passieren, würde dies allenfalls Inzucht fördern, was wohl kaum als erfolgreiche Anpassungsstrategie gelten könne.

Der amerikanische Paläontologe Stephen Jay Gould weist darauf hin, wie schwer es ist, Merkmale als natürliche Anpassung zu bestimmen. Auslese in der menschlichen Evolution vollzog sich über zigtausende oder Millionen von Jahren. Anpassung an die Umwelt ist oft zwar die plausibelste Erklärung, experimentell beweisbar ist sie nicht. Über Umweltbedingungen, Lebensweise und Geschlechterrollen der frühen Hominiden wissen wir nur wenig, die Frühmenschen selbst hinterließen wenig mehr als Knochen, versteinerte Essensreste und Steinklingen. So ist heftig umstritten, wann sich die Fähigkeit zur Sprache entwickelte: Einige Wissenschaftler datieren sie nur 100.000 Jahre zurück, während andere von bis zu 1,6 Millionen Jahren ausgehen. Sprache und Vernunft aber schaffen das nächste Problem: Evolutionspsychologen behandeln sie als bloße Besonderheiten der Evolution. Menschen können sich mittels Vernunft allerdings flexibler an die Umwelt anpassen, als jedes andere Lebewesen – und das ohne Gene.

Selbst wenn viele Verhaltensweisen einen genetischen Ursprung haben sollten, bleiben politische, juristische oder ethische Konsequenzen offen. „Es ist mir egal, ob Vergewaltigung ein genetisches Programm ist oder nicht“, meint der Leipziger Genforscher und Neanderthalerexperte Svante Pääbo. Entscheidend sei, dass kriminelles Verhalten geächtet werden müsse. „Wer sagt denn, dass kulturelle Gewohnheiten einfacher zu ändern sind als biologische Verhaltensweisen? Schließlich zwingt der Sexualtrieb einen nicht dazu, loszugehen und mit dem nächstbesten Sex zu haben.“ Der Mensch bleibt also zur Freiheit verdammt.