Unter dem Feuerberg

Seit der mexikanische Popocatepetl vor einem Jahr nach langer Ruhe wieder ausbrach, will die Landesregierung die Bergdörfer in der Risikozone evakuieren. Die Bevölkerung wehrt sich. Denn für sie ist der „rauchende Berg“ wie ein Familienmitglied, auf dessen Wünsche und Wohlbefinden – natürlich – zu achten ist. Eine Reportage vom Leben und Träumen mit dem mächtigsten Vulkan Lateinamerikas

von ANNE HUFFSCHMID (Text)und BÄRBEL HÖGNER (Fotos)

Ein gebeugtes Männchen, „sehr alt und sehr dick“, humpelte ihr eines Tages auf der Dorfstraße entgegen, erinnert sich Doña Silvestra. Als es näher kam, habe sie gesehen, wie zerschunden es war, mit verkohlter Kleidung und Brandwunden an Armen und Beinen. „Du kennst mich“, habe das Männchen zu ihr gesagt. Nein, antwortete sie. Doch, habe der Alte insistiert, „ich wohne da oben“, und mit seinen krummen Fingern in Richtung der schneebedeckten Bergspitze gezeigt. Verwundert habe sie den Kopf geschüttelt, kurz die Augen geschlossen, einen Moment nur. Als sie sie wieder öffnete, sei das Männlein verschwunden gewesen.

Das war er natürlich, sagt Doña Silvestra heute, der Popo höchstpersönlich. Draußen dämmert es, der mächtige Kegel des Popocatepetl, eines der gefürchtetsten Vulkane des Kontinents, ragt in den dunstigen Abendhimmel. Die kühle Bergluft dringt durch die Ritzen des Häuschens. Doña Silvestra schüttelt sich und zieht die rotbraune Strickweste enger um den rundlichen Leib. Nein, Angst habe sie damals nicht gehabt, sagt sie und sieht ihr Gegenüber nachsichtig an. Begegnungen mit dem Vulkan und anderen espíritus del tiempo, den Geistern des Wetters, gehören für sie seit zwanzig Jahren zum Alltag. Mal tagsüber, in Trance oder im Wachzustand, mal nächtens, träumenderweise.

Einst waren sie allseits hochverehrte Meister, die quiaclaxque („die das Wetter zu lesen wissen“) oder tiemperos, die Wettermacher. Zu prähispanischen Zeiten kommunizierten sie mit spirituellen Hoheiten wie Tlalóc, dem toltekischen Regengott, baten um Wasser und göttliche Fürsorge und bedankten sich für Fruchtbarkeit und gute Ernten. Die Feuer speienden Berge waren ihnen Zwitter aus Lebewesen und Gottheiten, die dem Menschen Regen und fruchtbare Erde bescherten.

Wurde der Vulkankult während der spanischen Kolonialherrschaft wie andere schamanische Rituale als Ketzerei verfolgt, so sind die altmexikanischen Riten in der Moderne mit denen des Katholizismus verschmolzen. Und ein paar tiemperos haben, als auserkorene Botschafter und Wächter des Vulkans, bis heute überlebt.

Sorgen macht sich Doña Silvestra in letzter Zeit allerdings schon. Denn schließlich sei das malträtierte Männchen erzürnt gewesen, in den letzten Jahren qualmt und spuckt der Popo immer heftiger. „Da stimmt was nicht“, meint auch ihr Gatte Vicente, ein freundlicher Mann mit kugelrundem Bauch. Und ist felsenfest überzeugt, dass die Regierung dahinter steckt. Vor jeder Explosion hätten er und andere Anwohner über dem Krater kreisende Kleinflugzeuge gesichtet. Was sie da reinwerfen oder rausholen, weiß er nicht. „Die sollen endlich den Mund aufmachen und uns sagen, was sie da Kostbares aus dem Krater holen.“

San Pedro Nexapa, eine Reihe Häuschen und Hütten links und rechts der Hauptstraße, ist eines des halben Dutzends Dörfer, die dem Vulkan zu Füßen liegen. Von hier aus wären es ganze sechzehn Kilometer zum Krater, die massige Bergwand mit ihrem weißen Kegel, meist von Wolken, gelegentlich auch von grauem Rauch umkränzt, ist den Bewohnern ewiger Nachbar. Beim letzten Ausbruch vor rund einem Jahr hat sich die Hälfte der Bewohner auf behördliche Weisung sprichwörtlich aus dem Staub gemacht. Die tiempera und ihre Anhänger waren da geblieben.

„Sie haben mich hier nicht weggekriegt“, sagt Doña Silvestra stolz und lässt einen ihrer grau melierten Zöpfe durch die Finger gleiten. Immerhin habe sie der Tochter versprechen müssen, ihr Häuschen vulkanfest zu machen. So ist jetzt alles, Aluminiumtöpfe und Körbe, Teller und Tassen, mit Stricken unter den hölzernen Dachbalken festgezurrt. Nur eine nackte Glühbirne baumelt lose von der Decke.

Am Abend des 18. Dezember vorigen Jahres, kurz nach halb acht. Unterbrechung auf allen Kanälen, sämtliche Bildschirme schalten binnen weniger Minuten auf ein einziges Bild um: den Glut speienden Berg. Der seit Tagen köchelnde Lavadom war explodiert, der Popocatepetl spuckte nicht mehr nur Rauch und Asche, sondern auch glühendes Gestein in die Nacht. Ein atemberaubender Anblick. In dieser Nacht und in den folgenden Tagen gibt es keine anderen Bilder und keine anderen News: Katastrophenalarm und Krisenstäbe, verängstigte Anwohner und Militärpatrouillen. Sender konkurrieren um Quoten und Standorte für Satellitenschüsseln, Fernsehmoderatoren warnen vor einer „kollektiven Psychose“. Dass die Explosion aus vulkanologischer Sicht eher ein „Low-Intensity-Ausbruch“ war, mit einer Schleuderweite von „nur“ fünfhundert bis tausend Metern, ist weniger spektakulär. Und kommt im medialen Hype zunächst gar nicht vor.

Natürlich sei die Gefährlichkeit des Popocatepetl „enorm“, betont Aurelio Fernández, Leiter des universitären Zivilschutzzentrums Cupreder in der Nachbarstadt Puebla. Das offizielle Krisenmanagement aber wertet er als „fatal“. Nach Schätzungen des Zentrums war lediglich die Hälfte der vierzigtausendköpfigen Risikobevölkerung dem Aufruf zur Räumung nachgekommen. Und das auch nur widerwillig und im Schneckentempo, nicht wenige organisierten vorher eigene Prozessionen und Gottesdienste zur Besänftigung des Kolosses. Durch überstürzte Evakuierungen und katastrophische Prognosen würden die Menschen allmählich abgestumpft, sagt Fernández.

Der Vulkanologe Claus Siebe beklagt die verbreitete Ignoranz – vor allem in den Medien. „Die haben eine Liveberichterstattung wie bei einem Fußballspiel betrieben“, erinnert sich der deutschstämmige Wissenschaftler entnervt. Überall und immer würden ihm „dieselben idiotischen Fragen“ gestellt: wann denn die Lavaströme kämen, wann denn die Hauptstadt verschüttet werde.

Dabei lauert die Gefahr beim Popo nicht im hollywoodesken Schreckensbild von rot glühenden Lavaflüssen, die binnen Minuten ganze Städte unter sich begraben. Sondern im zähflüssigen, ungleich weniger fotogenen Brei von Geröll und Gestein, in „brennenden Wolken“, einem Gemisch aus Gas, Glut und Aschepartikeln, und in bis zu dreißig Kilometer hohen Rauchwolken, die beim Zusammenfallen alles unter sich in feinsten Staub hüllen. Und darin, dass mit der Hitze die Gletscher an der Nordwand des Kraters abschmelzen und Schlammlawinen ins Rollen bringen.

Wann es so weit sein könnte, darüber sind seriöse Voraussagen nicht möglich. Gesteinsanalysen haben ergeben, dass die Intervalle zwischen tausend und dreitausend Jahre betragen. Der letzte große Knall hat vor etwa 1.100 Jahren stattgefunden. Daher sei „das Einzige, was wir mit Sicherheit sagen können“, so Siebe lakonisch, „dass es in den nächsten zweitausend Jahren passieren wird“. Falls schon morgen, dann wären tatsächlich eine halbe Million Menschen in Lebensgefahr.

Ein Nullrisiko kann es nach Ansicht des Vulkanologen gar nicht geben („auch Autofahren ist schließlich ein Risiko“), wohl aber eine fundierte Abwägung, bei der für die Region mittels Wahrscheinlichkeiten verschiedene Risikoniveaus errechnet würden. Eine seriöse Studie aber hat die Regierung bis heute nicht in Auftrag gegeben.

In seiner scharfen Kritik am offiziellen Zivilschutz trifft sich der Wissenschaftler mit Antonio Analco, dem tiempero auf der anderen Seite des Vulkans, aus dem Dorf Santiago Xalitzintla. Wenn auch aus gänzlich anderer Perspektive. „Erst gibt Gott dem Popo Bescheid“, sagt Don Antonio kategorisch, „und dann der Popo mir.“ Den behördlichen Warnungen misst er keinerlei Bedeutung zu. „Woher sollen denn die Soldaten wissen, wann es knallt?“ Soweit er wisse, habe Gott keine Anweisung zum Ausbruch gegeben.

Don Antonio ist misstrauisch. Nicht nur den Offiziellen, auch der Presse gegenüber. Nachdem er vom Brennholzschneiden zurückgekehrt ist und den mit Scheiten beladenen Esel zwischen gackernden Truthähnen im Hof festgebunden hat, tritt er in die Stube, schaut seine Besucher prüfend an, einen nach dem anderen, ohne den Anflug eines Lächelns. Das zähe Gespräch kommt erst in Gang, nachdem am Kiosk um die Ecke eine Plastikflasche mit Anislikör gefüllt und auf den blauen Holztisch gestellt wird. Der tiempero selbst trinkt wenig davon.

Aber ja doch, sagt er ungeduldig, er treffe sich mit dem Vulkan genauso „wie hier mit euch“. Seine Diktion ist ebenso scharfkantig wie die Gesichtszüge. Wie alles anfing? Don Antonio seufzt. Schon als kleiner Junge sei ihm der Vulkan im Traum erschienen. Damals habe er ihn noch nicht zu deuten gewusst. Als es Anfang der Achtzigerjahre im Frühsommer noch nicht geregnet habe, sei dem jungen Mann noch einmal im Traum offenbart worden, dass er die Macht habe, den Regen herbeizubringen. So sei er auf einen Hügel geklettert, habe dort ein altes Holzkreuz gefunden, das ganz schief in der Erde steckte. Just als er es wieder gerade in den Boden rammen wollte, habe er über sich einen „gewaltigen Donner“ gehört. Da habe er gewusst, dass er das göttliche Einverständnis habe. Und sich fortan seiner Mission gewidmet.

Vererbbar ist das magische Handwerk nicht. „Freiwillig macht das keiner“, sagt Doña Silvestra müde, „es ist eine echte Verausgabung.“ Mit ihrem Mann pflegt sie eine spirituelle Arbeitsteilung. „Sie stellt ihren Körper zur Verfügung und ich rede mit den Geistern“, erklärt Don Vicente. So können über sie auch andere Menschen die espiritús konsultieren. Viele („aber nicht alle“) Krankheiten kann sie mit ihrer Hilfe heilen, sagt Doña Silvestra, wer immer zu ihr kommt, zu jeder Tages- und Nachtzeit, ist willkommen. Doch das Träumen und immer wiederkehrende In-Trance-Geraten ist anstrengend. Das runde Gesicht der Mittfünfzigerin wirkt erschöpft, sie gähnt, ab und an fallen ihr im Gespräch die Augen zu.

Anders als Doña Silvestra arbeitet ihr wortkarger Kollege Antonio allein. Natürlich, er sei der Einzige, „der Vulkan kann ja nicht mit allen reden“. Dass auch immer mehr Dorfbewohner heutzutage eher auf Brunnen und Pumpen denn auf Weihrauch und Gesänge vertrauen, ist ihm völlig egal. „Ich bin nicht den Menschen verpflichtet, sondern nur dem da oben.“ Im Gegenzug für Wind, Wald und Wetter wacht er über Wünsche und Wohlbefinden des Vulkans.

So stiefelt Don Antonio alljährlich mit einem kleinen Grüppchen ein paar Stunden lang schwer beladen die schwarzsandige Anhöhe hinauf bis zum ombligo, dem Bauchnabel, einem Vorsprung rund tausend Meter unterhalb des Kraters. Dass der Aufstieg seit dem ersten Grollen des Vulkans Ende 1994 für Zivilisten strikt gesperrt ist, kümmert sie nicht. Holzkreuze werden mit roten Nelken drapiert, man serviert Truthahn in Mole, einer würzigen Paste, und tropische Früchte, Küchlein und Zigaretten. Mal sind Hut und Hosen dabei, mal eine Klarinette oder ein Akkordeon. Lange Zeit waren die überlieferten Traditionen verschüttet, erst nach 1994 wurden sie wiederbelebt. Und zeitgemäß modernisiert: Früher, so will es die Legende, sollen dem Wettergott drei- bis zwölfjährige Kinder geopfert worden sein, heute wird schlicht ein Truthahn geschlachtet oder, noch praktikabler, gleich ein Brathähnchen mitgebracht.

Denn der Vulkan mag noch so göttlich erhaben sein, irdische Gelüste und Bedürfnisse sind ihm durchaus nicht fremd. Er möge nur selbst gemachte Mole, sagt Antonios Frau, Doña Inés, eine fidele Dame in den Vierzigern. „Die andere schmeckt ihm nicht“. Nach dem Ausbruch vom Dezember haben ihm seine fürsorglichen Wächter Salben und Bottiche mit Niveacreme für die Brandwunden mitgebracht. Don Antonio wird bei den verwunderten Nachfragen wieder ganz unwirsch. Das sei doch selbstverständlich. „Wenn ich ein Familienmitglied besuche, überlege ich ja auch vorher, was ich mitbringe.“ So bekommt eben auch die „Vulkanin“, die benachbarte Iztaccíhuatl, bei der ihr gewidmeten Zeremonie einen Büstenhalter oder Ohrringe kredenzt. Aber ist die „Izta“, die seit Menschengedenken kein Wölkchen mehr von sich gibt, denn nicht schon lange erloschen? „Frauen sollen eben nicht rauchen“, kontert Don Antonio und sieht seine qualmende Besucherin tadelnd an. Das war beileibe kein Scherz.

Xalitzintla, knapp dreizehn Kilometer vom Krater gelegen, gilt als der gefährdetste Ort am Popo. Das alte nahua-Dorf ist in eine Schlucht geschmiegt, bei einem heftigen Ausbruch wäre es in einer halben Stunde mit Geröll zugeschüttet. Über den staubgrauen Dächern ragt die Kuppel einer prächtigen Kirche, auf dem Dorfplatz wird Hochzeit gefeiert. Die Braut flaniert über die Plaza, aus Boxen scheppert ein wenig Rumtata. Pferdehufe klackern übers Kopfsteinpflaster, ein paar räudige Hunde tollen umher. An allen Wegen und Wänden ist auf grünen Schildchen die ruta de evacuación, der Fluchtweg, markiert.

Vor 1994 war Xalitzintla ein gottverlassenes Niemandsdorf mit Schotterwegen. Heute gibt es wenigstens eine halbwegs asphaltierte Straße. Ausgerechnet das Grollen des Vulkans, nach der fast siebzigjährigen Ruhe, hatte Dörfer wie dieses, ihre Misere und ihre Mythen, aus der Vergessenheit geholt. So hat der Ausbruch, wie die Tageszeitung La Jornada schreibt, eine „mindestens ebenso explosive Situation“ zutage gebracht: Trotz der fruchtbaren Vulkanerde leben drei Viertel der Menschen ohne oder nur mit minimalen Einkünften, die meisten als Subsistenzbauern, mit winzigen Maisfeldern, ein paar Schafen und Schweinen. Über alledem thront der Popo – ganz nahe. Er ist einfach da, majestätisch, die Spitze in hellen Nebel gehüllt.

Zwei junge Männer, beide akkurat in blütenweißem Hemd und mit Schlips, kommen uns auf der Straße entgegen. An den Hemdkragen sind kleine Schildchen befestigt, „Elder Mace“ und „Elder Peñaflor“. Seit ein paar Wochen versuchen die zugereisten Mormonen, den Ort zu missionieren. Und jeden, der ihnen begegnet. Der Popo sei nichts als ein „Kamin der Erde“, erläutert der US-Gast geflissentlich, und die tiemperos mit ihren Zeremonien kultivierten nur die Ignoranz der Menschen. Wenn die Regierung Anweisung zum Weggehen gebe, dann gehe man natürlich. „Gott will uns lebend.“

Doch damit sind die Endzeitmissionare aus dem amerikanischen Norden in der Minderheit. Ein wenig später treffen wir Doña Zornillo, die Mutter von Inés, eine grimmige Greisin in ausgetretenen Turnschuhen, zwischen den gichtigen Fingern eine Zigarette. Wer den Popo nicht besteige, sei ein Angsthase, sagt sie verächtlich. „Selbst auf Händen und Füßen würde ich da raufkrabbeln.“ Weg will hier keiner. Wenn man schon sterben müsse, so sagen alle, dann eben hier. Die Landesregierung hingegen würde den inner circle der Risikozone am liebsten ganz umquartieren. Nach neuesten Plänen des amtierenden Gouverneurs, Melquiades Morales Flores, der der ehemaligen Staatspartei PRI angehört, sollen drei bis acht Dörfer mit mindestens vierzehntausend Bewohnern in sichere dreißig Kilometer Entfernung umgesiedelt werden. Dagegen regt sich allerorts heftiger Widerstand. Allen voran Don Antonio. In einem offenen Protestbrief ist von „totaler Ablehnung“ die Rede, da eine Umsiedlung einem „Todesurteil“ für die Gemeinden gleichkäme, die seit über dreihundert Jahren im Besitz der kleinen Parzellen rund um den Vulkan sind.

Nicht nur die Traditionalisten vermuten hinter den Evakuierungsplänen ökonomische Interessen. Die Landesregierung habe schon Bundesgelder in Millionenhöhe für die Umsiedlung kassiert, gemunkelt wird von Bauaufträgen an Familienangehörige des Gouverneurs. Skeptiker glauben gar, dass die geräumten Ländereien von ausländischen Investoren in einen Tourismuspark verwandelt werden. Beweise dafür gibt es bisher keine.

Die offiziellen Statements aber flößen kein Vertrauen ein. Noch im Frühjahr hatte der Gouverneur geprahlt, man habe schon die Grundstücke erworben, die Umsiedlung werde „so oder so“ stattfinden. Angesichts des bäuerlichen Unmuts macht sein Zivilschutzbeauftragter Ramón Peña nun einen Rückzieher und verspricht: „Keine Umsiedlung wider Willen.“ Was wird, ist bislang unklar.

Ohne eine unabhängige Studie könne man die Bauern jedenfalls nicht zum Verlassen ihrer Ländereien zwingen, sagt Claus Siebe. „Das ist, als ob sie dir ankündigen, morgen machen wir dir eine Herzverpflanzung, und zwar ohne vorherige Untersuchung. Und wenn du dich dann weigerst und tatsächlich krank wirst, wird man sagen: Selber schuld.“ So fürchtet der Vulkanologe, dass die Landesregierung sich mit Hinweis auf die vermeintlich „ignoranten und sturen“ Anwohner ganz aus der Verantwortung stiehlt – und die Menschen am Berg ihrem Schicksal und damit der Gefahr überlässt.

Effektiver Schutz, so Zivilschutzexperte Fernández, hätte also zunächst wieder das zerrüttete Vertrauen zu sanieren. Noch glauben die allermeisten, dass die vulkanische Aktivität alles andere als ein Naturphänomen ist. Bei einer Umfrage seines Zentrums Cupreder gaben fast dreißig Prozent der Befragten an, der geschäftstüchtige Expräsident Salinas (1988 bis 1994) habe den Popo längst an die Japaner verkauft, die jetzt dort ihr Unwesen trieben; fast ebenso viele glauben, dass hier Außerirdische irgendwie ihre Hände im Spiel hätten, und ein weiteres Drittel ist wie Don Vicente davon überzeugt, die Ausbrüche würden von der Regierung mit Dynamitladungen provoziert. Statt für autoritärer Panikmache und Hysterie plädiert Fernández für Sozial- und Aufklärungsarbeit. „Dazu müssen wir ihre Wege der Nachrichtenübermittlung verstehen lernen“, sagt der Wissenschaftler, „die Versammlungen, die nachbarschaftlichen Netze – und auch die Zeremonien.“

Ebendieses Credo des absoluten Respekts hat es dem Anthropologen Julio Glockner ermöglicht, wie kein anderer in die mythischen Denkwelten der tiemperos vorzudringen. So absurd es einem Geologen erscheinen mag, Träume als Methode zur Risikovoraussage zu nutzen, sagt Glockner, „so absurd ist es für einen tiempero, dass man mit Zahlen und Apparaten die Gefahr einer Explosion kalkulieren können soll“.

Noch hat der Popo „Geduld mit uns“, sagt Doña Silvestra. Damit das so bleibt und damit es bald „guten Regen“ gibt, zelebriert sie an einem dutzend natürlicher „Tempel“ eine floreada, eine Blumenzeremonie. Die Morgensonne treibt den Frost aus den Gliedern, die Vorbereitungen laufen schon seit den frühesten Morgenstunden auf Hochtouren. Um die Mittagszeit setzt sich der kleine Pilgermarsch in Bewegung, quer durch den endlosen Teppich der grünblau schimmernden Felder. Man erklimmt einen kleinen, sanft geschwungenen Rundhügel. Doña Silvestra ringt nach Luft. „Vor zwanzig Jahren bin ich wie ein junges Mädchen hier hochgelaufen“, keucht sie lachend.

Auf der Spitze erwartet uns eine kleine, von Gebüsch umwachsene Mulde, die Vulkanwand lässt sich hinter dichter werdenden Wolken nur erahnen. Geschäftig werden die Überreste vom letzten Jahr beiseite geräumt und „selbst gebastelte“ Girlanden im Gestrüpp aufgehängt, ein kleiner Weihrauchkrug wandert von Hand zu Hand.

Auch die Besucherin soll den Geist des Vulkans begrüßen. „Diese Schwester kommt von weit her“, stellt Silvestras Mann Vicente den Gast vor, „bitte erkenne auch sie an.“ Die Gesänge klingen fröhlich und klagend zugleich, die feuchte Luft ist schwer von Weihrauch. Während die Männer an den Kreuzen werkeln, binden die Frauen bergeweise bunte Rosen, Gladiolen, Margeriten und Hortensien zu prächtigen Sträußen zusammen, streuen Konfetti und zünden die Kerzen an. Auf einem Tischtuch werden Bananen und Orangen, Aprikosen und Melonen ausgebreitet, Pepsi-Dosen und Teller mit Reis, Huhn und Tortillas. Ohrenbetäubende Böllerschüsse und Gebete beschließen den spirituellen Teil, was folgt, ist ein munteres Picknick der Irdischen. Die Girlanden tanzen immer heftiger im Wind, leichte Eile kommt auf. „Wir hoffen, du bist ein wenig froh mit uns gewesen“, singen sie zum Abschied. Auf dem Rückweg fallen die ersten Tropfen.

ANNE HUFFSCHMID, 36, hält sich als Mexikokorrespondentin der taz die meiste Zeit des Jahres vulkannahe in Mexiko-Stadt auf