Gift ordern am Tresen

Zu Hause in fragilen Bewusstseinszuständen: Norman Ohlers Roman „Mitte“ – ein Buch über Drogen und das Wohnen in alten Häusern, auch ein Buch über die Westdeutschlandisierung der Hauptstadt

von DETLEF KUHLBRODT

„Man sagt: Das zweite Buch ist immer am schwersten“, hat Norman Ohler in Berlin gesagt, als er sein neues Buch „Mitte“ in Mitte vorstellte. Das stimmt bei ihm auch. Vor sechs Jahren war die „Quotenmaschine“ erschienen. Der Roman war enthusiastisch und unbekümmert geschrieben und hatte irgendwie an Lars von Triers ersten Film „Element of Crime“ erinnert. Es ging um eine seltsame Detektivgeschichte mit Internet, Sex und einem LSD-Trip im Central Park. Das passt gut zusammen, wie jeder Kiffer weiß. Norman Ohler hatte sich diesem augenzwinkernd ironischen Ton verweigert, mit dem ansonsten über derlei geschrieben wird und man dachte sich, hier ist einer ehrlich, hier tastet einer herum in Bereichen, die, seitdem sie zur Massenkultur gehören, unter Intellektuellen schlecht beleumdet sind.

Wie oft bei ersten Büchern wusste man danach nicht so ganz, wie es weitergehen würde. Ohler, der 1995 von New York nach Berlin gezogen war, auch nicht. Er hielt sich in einer der Berliner Technoszenen auf, verfolgte eine Weile das Projekt eines großen Drogenromans, in dem alles gesagt werden sollte, verwarf das dann wieder oder parkte die Entwürfe, schrieb Zeitungsartikel über den Dalai Lama und Naturdrogendrinks, reiste nach Thailand, Südafrika und Israel. Man beneidete ihn, dass er so selbstverständlich durch die Welt gondelte.

Vor einem Jahr baute er sich eine Internetseite. Die hieß „Sayheykey.“ Das bedeute „Werkzeug, das verborgene Informationen an die Benutzeroberfläche holt“. Auf Normans Benutzeroberfläche gab es das Tagebuch einer Reise nach Israel, Kapitel eines Romans, der in Südafrika spielen sollte („Stadt des Goldes“) und Auszüge aus seinem neuen Roman „Mitte“. Er hatte dann ein paar Lesungen, bei denen er seine Computerseiten an die Wand warf mit ein bisschen Musik und auf seinem Lesetisch hatte eine Ampulle mit der psychedelischen Droge Ketamin gestanden, die in der Tiermedizin als Betäubungsmittel verwendet wird.

Norman kennt wahnsinnig viele und interessante Leute, denkt man oft, wenn man ihn in der Öffentlichkeit trifft. Der Dichter, grad 31, lächelt eher selten. Als wir uns gegen Ende des Sommers im Kreuzberger Klub der Visionäre trafen, erzählte er von GBH, einer neuen Droge, einem Salz, das erst vor kurzem verboten wurde und dessen Wirkung zwischen gutem Betrunkensein und Ecstasy liegen soll. Das habe er in Südafrika kennengelernt. „Nehmen das viele?“ – „Vielleicht 100. In Deutschland werden es so 25 sein.“

Dann sprach er von der Zukunft, von miteinander vernetzten Leuten in Datenanzügen, deren Weltwahrnehmung man live abonnieren kann. So interpassivisch stellte er sich das vor. Dann redeten wir über die Antiglobalisierungsproteste in Genua. Er träumte von einer „freien Welt mit menschlichem Antlitz“ und ohne „chemische Mauern“, also Drogenverbote. Manchmal weiß man bei Norman nicht genau, ob das nun ernst gemeint ist oder irgendwie ironisch oder ob das möglicherweise gar nicht Norman ist, mit dem man spricht, sondern einer seiner Roman-Charaktere, die er gerade spielt, um zu gucken, wie die sind.

Kurz nach dem Angriff auf das World Trade Center saß Norman Ohler am Schaufensterende eines schlauchförmigen Raumes, den der Rowohlt.Berlin-Verlag für diesen Abend zu einer Bar umgebaut hatte. Sie sah so aus, wie die illegalen Berliner Clubs Mitte der Neunzigerjahre. Vor dem großen Fenster neben der Eingangstür gab es eine Bühne mit Plattenspielern und einer Leinwand mit geheimnisvoll verschwommenen Bildern des allein stehenden alten Hauses am Hackeschen Markt, in dem Ohlers Roman spielt. Das Publikum sah so aus wie 1995, an der Bar gab es Spacedrinks.

Ich hatte Norman Ohler noch nie so entspannt gesehen. Er lachte sogar. Das Buch spielt Mitte der Neunzigerjahre in Mitte halt, in der Mitte eines Hauses, in einem fragilen Zwischenreich, einem dämonischen Dämmerungsreich, in dem Nacht und Tag, Rausch- und Tagesbewusstsein ineinander übergehen.

Mitte der Neunziger war eine wilde Zeit am Hackeschen Markt. Eine Zeit außerhalb der Abfolge der Jahre; eine urbane Traumzeit, ein post-postmodernes Christiania im Kostüm der untergegangenen DDR. Manche Kneipen hätten damals fast ausschließlich vom Haschverkauf gelebt, erzählte jemand, in einem Klub habe ein Schild gehangen mit dem Satz „Poison to be ordered at the tresen“. Wenn man an der Theke nach Poison gefragt habe, habe ein wilder Mann einen großen braunen Klumpen hervorgeholt und einem mit einem riesigen Messer was abgeschnitten. So war das. Im Morgenlicht dann wieder die verfallenden Häuser im irrsinnigen Lärm der Straßenbahnen. Damals war Berlin die interessanteste Stadt der Welt und die höchste Intensitätsstufe innerhalb der Stadt lag in Mitte.

„Mitte“ sei sehr autobiografisch, sagt Norman Ohler. Das Buch ist Ingo, einem DJ, gewidmet, der betäubt von Ketamin in seiner Wohnung verbrannte. Held des Buchs ist Klinger, der geschasste Mitarbeiter eines Londoner Internetunternehmens. Klinger ist jung, ein bisschen außenseiterisch, ein bisschen kontrolliert depressiv. Jedenfalls zieht er nach Berlin und findet eine Wohnung am Hackeschen Markt, in einem heruntergekommenen Haus in der Großen Präsidentenstraße und arbeitet als Detektiv in einem Kaufhaus am Alexanderplatz, ohne je einen Dieb fassen zu wollen. Manchmal ist er im „Café Nadine“, wo ihm seltsame Drinks mit seltsamen Namen angeboten werden, meist aber zu Hause in fragilen Bewusstseinszuständen.

Das Haus ist ziemlich spooky. Hier lebt eine kratzbürstige Hausmeisterfrau, die im Lauf des Romans von einer Straßenbahn zerfetzt werden wird, ein DDR-Wissenschaftler, der sein letztes Projekt – die Züchtung von Vogelspinnen mit Hammer & Sichel auf dem Rücken – grad vollendet hat und ein alter Genosse, verdienter Antifaschist, der das Ende der DDR nicht richtig mitgekriegt hat, „und er sieht die Michael-Jackson-Statue auf der Saturn-Filiale und wundert sich nicht, weil er glaubt, es ist der junge Lenin“. Jeder, der mal in alten Häusern gewohnt hat, weiß, dass die Dinge die Menschen belauschen, dass die alten Wände, Tapeten, Böden, verwinkelten Zimmer am Ende der Flure, Dachböden und Keller aufgezeichnet haben, was in ihnen geschah. Deshalb renoviert man, wenn man in eine Wohnung zieht oder lässt es bleiben. Diese seltsame Erinnerungsspur, die sich an Menschen und Dinge heftet, nennt man Aura.

Die Aura des Hauses in der Großen Präsidentenstraße, der seltsam geschnittenen Wohnung, mit ihren halb versteckten Kammern, springt ihren neuen Bewohner an. Er erfährt, dass es im modrigen Keller des Hauses seit den Zwanzigerjahren ein berüchtigtes Rauschgiftlokal gegeben hatte, dessen Besucher nie mehr nach oben kamen und Ende des Zweiten Weltkriegs verschüttet wurden. Er hört von seinem Vormieter, Igor, einem DJ, der in der abgelegenen Dienstmädchenkammer im Ketaminrauschverbrannte und allerlei Sachen hinterlassen hat. Platten, Tapes, eine Anlage und vor allem mehrere Ketaminampullen.

Der Geist von Igor spukt durch die Wohnung und fordert Klinger auf, sich eine Ampulle zu spritzen. Die psychedelische Droge wirkt heftig und kaum länger als eine Stunde. Während des Rausches trennt sich Klingers Geist von dem ihm zugeteilten Körper und erlebt Dinge, die in einem verwirrenden geometrischen Chaos aus Formen und Farben enden.

Draußen macht man die Mitte hauptstadtkonform. Häuser werden entkernt und restauriert, für die kreativen Geister, die sich zwischen DDR und BRD verwirklichen konnten, wird es eng. Klinger und seine Freunde nehmen die Normalität als Gefängnis wie in „Matrix“ wahr: „die leute müssen an einer funktionalität teilnehmen, die sie gar nicht wollen. sie bauen sich ihr lager hier, unbewusst, wie die hummer im feinschmeckerbecken steigen sie in der mitte übereinander, in einer ewig andauernden, beklemmenden Szenerie, mit ihren zusammengebundenen scheren.“

Ansonsten Ketamin und da geht es um anderes als nur um den nächtlichen Urlaub von einer Tagesrealität, die einen bedrückt oder deren tolle Momente man steigern möchte. Es geht um mystische Erfahrungen ohne Gott oder den in der romantischen Drogenliteratur beliebten Pantheismus, um Rauscherlebnisse, die nicht spirituell (Huxley) oder politisch-ideologisch (Bernward Vesper) aufgefangen werden, um eine Ursprungssehnsucht, die naturgemäß ohne Erfüllung bleibt, um die Kindheit, ein Trauma am Rande. Die Außerkörpererlebnisse auf Ketamin lassen den Helden verwirrt oder depressiv zurück. Dinge sind geschehen in seiner Abwesenheit. Er recherchiert dem Tod des DJs hinterher, dem keiner half, als er verbrannte; er verliebt sich in eine Studentin der Kulturwissenschaften, die als Hure jobbt und der er von seinem Fenster aus bei der Arbeit zuschauen kann. Am Ende geht es auch darum, dem Geist des DJs so horrorfilmmäßig zur Ruhe zu verhelfen.

Die Atmosphäre des ganzen Romans ist novembrig, depressiv wie Polanskis „Ekel“ und äußerst intensiv. Die lustigen Passagen, die es auch gibt – eine schöne Reihe von Ladendiebstahlsversen etwa –, wirken wie Galgenhumor. Die Merksätze, die der Held wie ein Mantra ständig in seinem Kopf wiederholt – „Ich will eine Maschine sein: Arme zu greifen, Beine zu gehen, kein Schmerz, kein Gedanke“ –, erinnern an Oliver Sacks’ kleinen Jungen, der sich sicher war, ein Kran zu sein.

„Mitte“ ist der erste ernsthafte Drogenroman nach Bernward Vespers „Reise“ und zugleich ein Buch über das Wohnen, über Ladendiebstahl, eine Dreiecksliebesgeschichte mit Geist, auch ein historischer Berlin-Roman über die Westdeutschlandisierung von Mitte. „Mitte“ liest sich so, wie man einen spannenden, düsteren Film guckt und nicht ausschalten kann, auch wenn man längst ins Bett müsste.

Ohler meint es ernst im Kampf gegen die chemische Mauer. Auf seiner Internetseite „bonzshop.de“ bietet er virtuelle Ketamin-Anfängersets an. Viele Bücher sind auch noch in seinem Kopf.

Norman Ohler: „Mitte“. Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2001, 254 Seiten, 19,90 € (38,92 DM)