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stefan kuzmany über ChartsDuell der Könige im Höhlensystem

Die Taliban haben’s verboten, deshalb ist das Schachspiel Pflicht eines jeden zivilisierten Menschen

OUT Kalt ist’s draußen geworden, und deshalb bleiben wir besser mal daheim. Wohlig im Warmen drängt sich trotzdem eine unangenehme Frage auf: Was tun? Einfach weiter sich räkeln, das wäre zu wenig. Jeden Tag so leben, als sei er der letzte, heißt es doch immer. Am letzten Tag sich nur räkeln, das geht also nicht. Einerseits. Andererseits: Am letzten Tag aufräumen? Die Steuererklärung machen? Abspülen gar? Auf keinen Fall. Ansprechend sollte die Beschäftigung sein. Heute Abend kommt Besuch, also ist zudem Interaktion gefordert.

Seit das Kunststoffsäckchen für die Scrabble-Buchstaben wegen einer kleinen Unachtsamkeit in Flammen aufgegangen ist und die Buchstaben deshalb in einer alten Socke gelagert werden müssen, ist dieses Spiel Gästen leider nicht mehr präsentabel. Strippoker hätte im Voraus geplant werden müssen (mehrere Lagen Unterhosen und Socken übereinander anziehen); das geht jetzt nicht mehr, denn gleich klingelt’s, außerdem ist der Besuch männlich, der Gewinn wäre daher wenig reizvoll. Schafkopf zu zweit: unmöglich.

Also Schach. Logisch. Erstens: „Das Spiel der Könige“, höhö, wer wäre nicht gerne mal einer. Zweitens: Die Taliban haben’s verboten. Es ist also die verdammte Pflicht eines jeden zivilisierten Menschen, dieses Verbot zu unterlaufen. Drittens: Der Kollege, der gleich kommt, hat sich einen Schachcomputer angeschafft und übt seit drei Wochen, als kriegte er’s bezahlt. Prahlte telefonisch mit Kenntnissen über Spassky-Partien und indische Varianten. Lieh mir den Computer scheinbar großzügig, als er für eine Woche nach Amerika entschwand. Rief mich jedoch nach der Rückgabe an: Er wäre „sehr dankbar“, wenn ich ihm den schwarzen Bauern, den ich offenbar verschlampt hätte, demnächst vorbeibringen könnte. Stürzte mich damit in schreckliche Schuldgefühle. Zwang mich zur mehrmaligen zeitraubenden Durchsuchung meiner Wohnung, die, wie er genau weiß, einem verzweigten Höhlensystem gleicht. Er fand den vermissten Bauern schließlich nach drei Tagen „zufällig“ unter seinem eigenen Küchentisch! Zufällig! Ha! Das war nichts anderes als eine bewusste Demütigung. Der wird sich noch wundern.

Ich beginne. Wir spielen ohne Uhr. Unbegrenzte Bedenkzeit. Die nutze ich voll aus. Der soll nicht denken, dass ich mir so schnell in die Karten sehen lasse. Bis zuletzt soll ihm meine Strategie verborgen bleiben. Eine halbe Stunde vergeht. Schweigend brüten wir über dem Brett. Mein Gegenüber wird unruhig. Spricht davon, dass er hier nicht die ganze Nacht sitzen wolle. Ein konzentrierter Blick bringt ihn zum Schweigen. Weitere Minuten schleichen dahin. Ich lasse mir nichts anmerken, denke aber gar nicht daran, die Partie tatsächlich zu eröffnen, formuliere stattdessen innerlich Einkaufslisten sowie einen Brief an meine Patentante. Gerade will ich doch meinen ersten Zug machen, da bricht mein Gast das bleierne Schweigen: Er müsse sich entschuldigen, er sehe gerade, er habe die Pferde auf die Position der Läufer gestellt und die Läufer auf die der Pferde, aus Versehen, es sei ihm gar nicht erklärlich, wie das habe geschehen können, vielleicht der Jetlag, er sei ja gerade in Amerika gewesen, so was Blödes aber auch, ein großartiges Land jedoch, er wolle das nur schnell korrigieren, dann könne es ja wohl endlich losgehen. Ich protestiere entschieden. Wenn er auch nur eine einzige Figur verrückt, ohne am Zug zu sein, dann hat er eben verloren. So sind halt die Regeln.

Das gefällt ihm gar nicht. Darauf war er nicht vorbereitet. Das gehe so nicht. Sehr gut, er wird nervös. Trappelt mit den Füßen. Erhebt sich. Geht im Raum umher. Spricht über Schach und seine Bedeutung für die Zivilisation und dass es gänzlich unzivilisiert sei, aus einer falschen Grundstellung heraus überhaupt anzufangen. Ich gebe mich großzügig. Er korrigiert die Grundstellung. Ich nutze den Moment der Verwirrung und ziehe sofort: Bauer f2 nach f3. Sehr unorthodox. Überraschend. Damit hat er nicht gerechnet. Daran wird er knabbern. Um ihn weiter zu verunsichern, gehe ich mir erst mal die Hände waschen.

Als ich nach weniger als einer Minute zurückkehre, hat er bereits seinen Zug gemacht: Bauer e7 auf e5. Wie aus dem Lehrbuch. Wie langweilig. Der denkt wohl, er könne hier eine Partie durchziehen, die er gegen seinen doofen Schachcomputer schon hunderte Male geübt hat. Streng schematisch. Mein Vorteil: ich reagiere nicht wie ein Computer. Sondern menschlich. Intuitiv. Mit Gefühl. Wenn ich jetzt einen Zug mache, den der Computer niemals machen würde, dann ist er aufgeschmissen, der Schlaumeier. Bauer g2 auf g4.

Der Gast steht auf, geht zum Kleiderständer, holt sich seine Jacke, streift sie über, nimmt noch mal kurz Platz, zieht: Dame d8 auf h4. Matt. Er erhebt sich wieder, verabschiedet sich höhnisch grinsend. Ich schenke ihm zum Abschied mein Schachbrett inklusive aller Figuren. Ich werde es nicht mehr brauchen.

IN Neulich beim Abendspaziergang folgenden Gedanken gehabt: Wenn die Taliban das Schachspiel nicht verboten, sondern im Gegenteil ein wenig geübt hätten, wäre die ganze Geschichte wohl anders ausgegangen.

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