Die Rache des Millerntors

■ Selbst Wecker werden beim 3:0 von Werder Bremen gegen St. Pauli ihrer Funktion beraubt

Ein piesackender Klingelroar für alle Beteiligten sollte es eigentlich werden. 1000 Wecker wurden von den Fans des FC St. Pauli mit in das Rund getragen, auf 15.27 Uhr gestellt und die geforderte Beendigung des Tiefschlafs symbolisiert, in dem sich die St. Pauli-Kicker in den ersten Minuten des Spiels gerne noch befinden – mit dem nützlichen Nebeneffekt, die seit sechs Spielen siegreichen Werderaner aus ihren Siegesträumen zu reißen.

Doch nichts in dieser Saison ist, wie es im Millerntor-Stadion einmal war. Im vermeintlich letzten Jahr als Spielstätte des FC St. Pauli scheint es, als ob es all die grausamen Kicks und trostlosen Erinnerungen aus der längsten Zeit seines Bestehens gnadenlos zurückzahlen will. Ein mystisches Revanchefoul des bröckelnden Bauwerks ausgerechnet in seiner letzten Bundesligasaison, als wollte es allen noch mal zeigen, dass es mehr Wesen als Stadion ist. So verschluckte es in seinem Bauch mutwillig auch all die Klingelspiele.

Vielleicht sind es auch die unbekannten neuen Spieler, auf die es das Millerntor abgesehen hat. Torwart Bulat wirkt zuweilen wie an unsichtbaren Strippen aus seinem Kasten gezogen, um den Zweikampf gegen den heransprintenden Frings zu suchen, dann aber, statt die Hände, gar nichts benutzend den Ball passieren zu lassen. Glücklicherweise knapp am Tor vorbei. Der Abstoß geht so manches Mal mit Wucht hoch, als ob der Goalie dort oben in der Luft über dem Stadion jemanden erahnt, den es auszuschalten gilt. So muss auch Henning Bürger gefühlt haben, der wie aufgezogen den Anstoß nach dem 0:1 mit voller Wucht in Richtung Südkurve ballerte.

Dem war eine Entscheidung des Schiedsrichters Albrecht vorausgegangen, die in anderen Stadien unerklärlich gewesen wäre. Oliver Held köpft sich selbst im Rückwärtsfallen den Ball außerhalb des Strafraums an die nach Halt suchende Hand und wird zwar nicht mit Gelb, dafür aber mit einem Elfmeter bestraft. Sofort machte das Millerntor die Meute wild, pushte sie an den Rand eines Spielabbruchs, und ließ Bierbecher aus seinem Inneren fliegen, die Christian Rahn trafen, der sich zu seinem Unglück zu nahe beim Linienrichter aufhielt. Kein Spielabbruch, aber immerhin das 0:1 durch Viktor Skripnik.

Für Marcao, der sich an die absonderlichen Gegebenheiten im Stadion gewöhnen könnte, bekommen die Bälle dennoch so seltsame Verformungen im Sprungverhalten, dass es ihm unmöglich erscheint ,die Lederkugel aus dem Fünfmeterraum zu bugsieren. Ailton freute sich über das entscheidende 0:2, und auch das Millerntor schien seine Rachegelüste vor dem drohenden Abriss befriedigt zu haben.

Noch mehr Vodoo: Auch Abwehrspieler Moudachirou Amadou, wie von einem werdernahen Puppenspieler bedient, passte regelmäßig den Ball an einen Bremer Spieler weiter und leitete so auch den finalen Bremer Konter zum 0:3-Endstand ein. Dabei zeigte sich der quadratische Bau mal liebevoll. Um in Erinnerungen nicht nur als zickiges altes Ding zu gelten, suchte sich die gute Seele einen Torschützen aus, der das Millerntor nie vergessen wird. Tim Borowski erzielte sein erstes Bundesligator und dürfte der Einzige gewesen sein, der das alte Gestell in schöner Erinnerung behalten wird.

Da half selbst das Feuerwerk für Andre Trulsen, der sein 200. Ligaspiel machte, nicht, um das häss-liche Gesicht des Millerntors zu kaschieren. Oke Göttlich