Synchron oder der zweite Grund

Bei den deutschen Eiskunstlaufmeisterschaften im Wedding fehlten Stars, aber es präsentierte sich eine junge Sportart

Nicht irgendein Vergleichswettkampf, sondern die exakt 100. Deutschen Meisterschaften im Eiskunstlauf fanden am Wochenende in der Hauptstadt statt. Aber nicht etwa, dass sich für eine solche nach Bedeutung und Bundespräsidentengrußwort heischende Veranstaltung ein entsprechender Rahmen gefunden hätte: Es war nur die kleine „Erika-Heß-Eissporthalle“ im Wedding, neben Schering und gegenüber TIP-Autoteile gelegen, die als Ort auserkoren wurde.

Neue Größen, die kurz vor Winterolympia an Katarina Witt, Norbert Schramm, Tanja Szewczenko oder Jan Hoffmann erinnerten, waren auch nicht von der Fachwelt ausgemacht und vom Weddinger Publikum in der kalten Halle zu besichtigen. Und dass dort keine gähnende Leere herrschte, lag primär an dem Umstand, dass die Halle so klein ist und folglich trotz 500 Zuschauern am Samstagabend leicht gut gefüllt wirkt. Primär, denn es gibt noch einen zweiten Grund, und der hat mit dem Sport Eiskunstlauf, seiner Weiterentwicklung in den letzten Jahren und den kleinen unerwarteten, aber sehr begrüßten Nebenwirkungen zu tun. Synchroneiskunstlaufen heißt dieser zweite Grund, und es ist eine Sportart, die an Formationstanzen erinnert: Zwanzig meist weibliche Eiskunstläufer bilden verschiedenen Figuren auf dem Eis – wenn sie gerade auf dem Eis sind. Ansonsten sorgten nämlich die sechs in Berlin angetretenen Synchroneiskunstlaufteams auf der Tribüne für gute Stimmung. Denn so ein 20-köpfiges Team macht lautstärkemäßig wesentlich mehr her als die zum Sprichwort geronnene Eislaufmama, die natürlich auch an der Bande hockt, aber halt nie so laut wird. Dominiert wird die nicht nur in Deutschland junge Disziplin, die sich noch um ein weniger holpriges Wort als Synchroneiskunstlaufen bemüht, vom „Team Berlin 1“ des im Ostteil ansässigen TSC. Das Team – 19 junge Frauen und ein junger Mann – bildete sich in den frühen Neunzigerjahren. Läufer aus fünf Berliner Eissportvereinen nahmen das Angebot des TSC an, die neue Sportart auszuprobieren.

Unter anderem war es hier etwas leichter, Deutscher Meister zu werden, als in den anderen Disziplinen: dem Eiskunstlauf für Solosportler und für Paare oder dem Eistanz. Fünf deutsche Meistertitel in Folge holte das „Team Berlin 1“. Und bei den ersten offiziellen Weltmeisterschaften vergangenes Jahr wurden die Berliner gleich Siebte.

Dabei ist die neue Sportart schon um die fünfzig Jahre alt. Sie wurde von einem Pädagogen namens Dr. Richard Porter aus Ann Arbor im amerikanischen Michigan, unweit von Chicago, 1954 erfunden. In den USA und Kanada wurde das Formationstanzen auf dem Eis populär. Erste Wettkämpfe gab es 1976, und in den Achtzigerjahren fand ein Export der Idee nach Japan und Australien statt. In Europa war sie spätestens Ende der Achtzigerjahre angekommen, als im schwedischen Molmdal 1989 erstmals ein internationaler Wettkampf ausgetragen wurde.

Seit 1991 ist der Sport vom Eiskunstlaufweltverband ISU anerkannt, 1995 gab es in Dearborn bei Detroit/USA die ersten inoffiziellen Weltmeisterschaften. Erstmals 1996 gab es den World Challenge Cup, der später in Boston/USA (1996), Turku/Finnland (1997), Bordeaux/Frankreich (1998) und Göteborg/Schweden (1999) ausgetragen wurde. Seit 2000 werden offizielle Weltmeisterschaften organisiert. Sie fanden in Minneapolis/USA statt. Erste Weltmeister wurde das „Team Surprise“ aus Schweden.

Was den neuen Sport vom Revuetanz, an den die glitterige Kleidung und die arg kurzen Röckchen erinnern, unterscheidet, ist die strikte Vorgabe der technischen Elemente: Kreise, Linien, Blöcke, Räder und Durchkreuzungsmanöver werden gefordert. Erinnern Kreise und Räder an Kindergeburtstage, Linien an Polonäsen und Blöcke an die Aufstellungen der Römer im Asterixzeitalter, so gemahnen spätestens die von zwei oder mehr Linien durchgeführten Durchkreuzungen an den erforderlichen Trainingsschweiß, den der Synchroneiskunstlauf verlangt.

Vor der Erika-Heß-Eissporthalle fanden sich an den Wettkampftagen jede Menge in einheitlichen Trainingsanzügen ausstaffierte junge Frauen, die – musikalisch von nicht gut ausgesteuerten und sich gegenseitig Konkurrenz machenden Ghettoblustern untermalt – choreografische Figuren einübten. Beugen nach links, knieend mit einem in die Luft gestreckten Arm beugend nach rechts. Wie im Wind, bloß im Wedding. Das „Berlin Team 1“ wird, wie auch seine härteste Konkurrenz, die „United Angels“ aus Stuttgart, im kommenden April im französischen Rouen bei den nächsten Weltmeisterschaften antreten. Da freilich sind die Synchroneiskunstläufer wieder unter sich, abgekoppelt von den übrigen Eiskunststars. Dann müssen sie allein für Stimmung sorgen.

MARTIN KRAUSS