Im Musterländle der Realos

In Baden-Württemberg sind die Grünen so bodenständig wie nirgendwo sonst. In keinem anderen Flächenland hat die Partei so viel Zuspruch

aus Stuttgart RALPH BOLLMANN

Fast wäre die Stimmung gekippt an diesem Abend in der „Zunftstube“ des Württemberger Hofs. Immer heftiger wird der Bundestagsabgeordnete Cem Özdemir von seinen Freunden an der Ludwigsburger Basis bedrängt: Bleibt nach dem Rostocker Parteitag kein Platz mehr für den linken Flügel der Partei?

Der Ton wird immer schärfer, da meldet sich ein Mann mittleren Alters zu Wort, der an diesem Abend noch kein Wort gesagt hat. Als Einziger im Raum trägt er Krawatte, ein leichter Bauchansatz und beginnender Haarausfall unterstreichen die Aura schwäbischer Solidität. Vor ein paar Wochen erst wurde Arno Schütterle zum zweiten grünen Oberbürgermeister in Baden-Württemberg gewählt: in Mühlacker, einer Stadt mit 25.000 Einwohnern zwischen Stuttgart und Karlsruhe.

Er habe sich, erklärt Schütterle seinen Erfolg, „nicht an Freundeskreisen abgearbeitet“, sondern „die konkreten Probleme“ ins Visier genommen. Die Parteifreunde haben verstanden. Der Prinzipienstreit über Afghanistan findet ein rasches Ende, und die Versammelten schreiten zur Abstimmung. Mit 87 Prozent der Stimmen wird Özdemir erneut zum Bundestagskandidaten für den Wahlkreis Ludwigsburg nominiert.

Özdemirs Chancen, tatsächlich wieder in den Bundestag einzuziehen, entscheiden sich im Februar. Dann stellt der Landesparteitag der Südwest-Grünen die Landesliste auf. Und dort herrscht großes Gedränge. Kommt die Partei wieder auf gut 7 Prozent wie bei der Landtagswahl im März, wird es nur für sechs oder sieben Abgeordnete aus Baden-Württemberg reichen. Und weil jeder zweite Platz für eine Frau reserviert ist, gibt es für die prominenten Männer aus dem Schwäbischen nur drei sichere Listenplätze.

Einen davon beansprucht der Bundesvorsitzende Fritz Kuhn, der die überkommene Trennung von Parteiamt und Bundestagsmandat endlich überwinden will. Den zweiten will der Fraktionschef Rezzo Schlauch einnehmen. Um den dritten schließlich muss sich Özdemir mit dem oberschwäbischen Haushaltsexperten Oswald Metzger streiten. Und dann gibt es noch den Kriegsgegner Winfried Hermann aus Tübingen, der wieder in den Bundestag drängt.

Dass es auf der Landesliste im Südwesten eng wird, hat einen ganz einfachen Grund: Fast die gesamte Prominenz an der grünen Bundesspitze stammt aus Baden-Württemberg. In den drei Jahren seit der letzten Bundestagswahl hat die Spätzle-Connection Schritt für Schritt die Partei erobert. Erst griff der Stuttgarter Rezzo Schlauch nach dem Amt des Fraktionsvorsitzenden, dann wurde der Heidelberger Reinhard Bütikofer Bundesgeschäftsführer, und am Ende besetzte der Stuttgarter Fritz Kuhn auch noch die Parteispitze.

Kuhns Mitstreiterin Claudia Roth hat ihre politische Heimat im bayerischen Schwaben, nur wenige Kilometer von der baden-württembergischen Landesgrenze entfernt. Außenminister Joschka Fischer wurde im gleichen Städtchen wie Rezzo Schlauch geboren, dem hohenlohischen Gerabronn. Und die schwäbischen Abgeordneten Özdemir und Metzger halten im Bundestag die beiden wichtigsten Politikfelder besetzt: Inneres und Haushalt.

„Wir da unten gegen die da oben“

Diesen sieben Politikern stehen an der Spitze von Partei, Fraktion und Regierung nur noch drei prominente Grüne gegenüber, die nicht aus dem Südwesten stammen: die Rheinländerin Kerstin Müller, der Niedersachse Jürgen Trittin und die Berlinerin Renate Künast. Das Erstaunlichste daran: Über die Marginalisierung der Nichtschwaben hat sich noch niemand öffentlich beklagt. Natürlich stoße die badisch-schwäbische Dominanz „nicht überall auf große Freude“, gibt der Stuttgarter Fraktionschef Dieter Salomon zu. Schlaflose Nächte bereitet das dem Freiburger aber nicht: „Das ist halt so.“

Schon immer waren die schwäbischen Grünen besser als alle anderen. Baden-Württemberg war – nach Bremen – das zweite Bundesland, wo die Partei ins Parlament einzog. Es ist noch immer der Flächenstaat, in dem die Grünen ihre besten Wahlergebnisse einfahren. In Konstanz wurde 1996 der erste grüne Oberbürgermeister der Republik gewählt. Bei der Wahl des Stuttgarter Stadtoberhaupts im selben Jahr musste sich Rezzo Schlauch nur knapp geschlagen geben. Bei so vielen Erfolgen interessiert es außerhalb der Region schon niemanden mehr, dass die Grünen mit Arno Schütterle in Mühlacker wieder einen Oberbürgermeister stellen.

Wie aber funktioniert das Prinzip Schütterle? Was macht die Grünen im Südwesten so erfolgreich? Wer sollte diese Frage beantworten können, wenn nicht Dieter Hasenclever, der von 1980 an die erste Grünen-Fraktion im Stuttgarter Landtag anführte. „Wir da unten gegen die da oben“: Das habe, sagt Hasenclever, schon immer zur Mentalität im Südwesten gehört – seit den Bauernaufständen im 16. Jahrhundert oder der Revolution von 1848.

Baden-Württemberg, das Stammland der Liberalen. So sagen es alle, die gerne das linksliberale Erbe der FDP antreten möchten. Stolz verweist Cem Özdemir auf ein Plakat, mit dem die Grünen vor ein paar Jahren die Delegierten des Stuttgarter FDP-Dreikönigstreffens empfingen. „Theodor Heuss würde heute grün wählen“, stand darauf.

Baden-Württemberg, die Heimat der Rechthaber und Eigenbrötler. So kann man es auch sehen, gibt Hasenclever zu. Nicht nur die Grünen kamen hier früher als andernorts ins Parlament, auch die „Republikaner“ zogen zweimal hintereinander in den Landtag ein. Und wo sonst wäre eine Figur denkbar wie der Obsthändler Helmut Palmer, der seit Jahrzehnten landauf, landab bei Bürgermeisterwahlen kandidiert – und dabei zwar nie gewählt wurde, aber Ergebnisse von bis zu 40 Prozent einstreichen konnte? Palmers Sohn Boris, so viel zur Kontinutität politischer Traditionen, ist Landtagsabgeordneter der Grünen.

Ohne ein Kommunalwahlrecht, das statt Parteien nur Personen kennt, wäre der Erfolg der Südwest-Grünen kaum denkbar gewesen. Nicht nur, dass das Volk über die Bürgermeister abstimmt. Auch für den Gemeinderat kreuzen die Wähler einzelne Personen an. Da kommt es vor, das auch ein CDU-Anhänger einen Teil seiner Stimmen für grüne Kommunalpolitiker erübrigt. Aus diesem Grund, glaubt der Oberschwabe Oswald Metzger, konnten sich bei den Grünen zwischen Main und Bodensee so viele Persönlichkeiten profilieren: „Bei uns hat die Partei auch ein Gesicht.“

Insel der Aufrechten

Das gilt auch auf dem Land, wo die einheimischen Grünen oft viel eher akzeptiert werden als die zugereisten Akademiker von der SPD. Nirgendwo hätten sich „linke Bewegung und ländliche Identität“ so sehr verbunden, sagt Wolfgang Kaschuba, Berliner Kulturwissenschaftler schwäbischer Herkunft. Der bäuerliche Protest gegen die im Südwesten besonders zahlreichen Atomkraftwerke, der Pietismus und die Tradition der sozialen Kontrolle, der schwäbische „Eigensinn“ – das alles habe sich zu einer Mixtur verbunden, die den Aufstieg der Grünen begünstigte.

Wer alle sieben Tage zwanghaft zur „Kehrwoche“ schreitet, dem ist leicht klar zu machen, dass man auch die Umwelt sauber halten muss. Die Schwaben schwärmten schon zur „Putzete“ in den Wald aus, als es die Grünen noch gar nicht gab. Diese Bodenhaftung sorgte dafür, dass die schwäbischen Grünen von Anfang an auf ganz praktische Weise Politik machten. Obwohl sie auf Landesebene nie regierten, konnten sie sich in vielen Punkten durchsetzen – weil Parteigrenzen in den Kommunalparlamenten keine große Rolle spielen. So wurde Baden-Württemberg zum Musterländle der Realos. Allenfalls in Universitätsstädten wie Tübingen brach, unter Berufung auf Geistesgrößen wie Hölderlin und Hegel, die Neigung zu Theoriedebatten durch.

Noch immer sieht sich der Tübinger Kreisverband als Insel der Aufrechten im Meer der angepassten Kriegspolitiker. Als die örtlichen Grünen den Pazifisten Winfried Hermann in der vergangenen Woche wieder als Direktkandidaten nominierten, stärkten sie dem Dissidenten demonstrativ den Rücken. „Ich find das toll, dass du immer noch nach vorne denken kannst“, lobte der Landtagsabgeordnete Boris Palmer.

Das sehen bei den Südwest-Grünen nicht alle so. Beim Listenparteitag im Februar, weiß Hermann selbst, „sind meine Karten nicht sehr gut“. Schon organisieren die Realos ihre Mehrheiten, und der Stuttgarter Fraktionschef Salomon redet Klartext. „Jetzt gibt es keine Notwendigkeit mehr, Duftmarken nach ganz links außen zu setzen“, sagte er nach dem Kriegsbeschluss des Rostocker Parteitags. Damit sprach er aus, was die gesamte Riege der schwäbischen Realpolitiker denkt. Nur sagen würden es die anderen nicht so deutlich. Als die Ludwigsburger Basis von Özdemir wissen will, was er denn von Salomons Aussage halte, bleibt der sonst so eloquente Abgeordnete die Antwort einfach schuldig. Er habe Salomons Äußerungen „nicht gelesen“.

Auch wenn den Realos auf dem Parteitag im Februar der Durchmarsch gelingt, ist für Özdemir die Rückkehr in den Bundestag keineswegs sicher. Um den dritten aussichtsreichen Männerplatz, den Kuhn und Schlauch auf der Landesliste übrig lassen, muss er mit dem Haushaltsexperten Oswald Metzger konkurrieren. Doch anders als zu Hermann ist ihm zu Metzger kein negatives Wörtchen zu entlocken.

Özdemir wie Metzger versichern gleichermaßen, sie könnten sich eine Bundestagsfraktion ohne den jeweils anderen nicht vorstellen. „Dass einer von beiden über den Jordan geht“, sagt der Stuttgarter Fraktionschef Salomon, sei „eine blöde Situation für alle Beteiligten“. Und so hofft er, dass die Südwest-Grünen bei der Bundestagswahl auf mindestens 9,5 Prozent kommen, knapp 2 Punkte mehr als bei der Landtagswahl. Dann wäre Baden-Württemberg, nach der Scharte vom Frühjahr, wieder das grüne Musterländle.