Nichts ist, wie es scheint

Warum es die Merkel-Freunde sind, die für den Kandidaten Stoiber plädieren. Und warum die Stoiber-Unterstützer wollen, dass Merkel stark dasteht

aus Berlin PATRIK SCHWARZ

Lewis Caroll hat als Erster die Geschichte des kleinen Mädchens aufgeschrieben, das in eine Welt der wundersamen Verdrehungen stolpert. In der Union aus CDU und CSU wird dieses Stück derzeit mit großem Einsatz an Personal und Spezialeffekten neu aufgelegt: Angela im Wunderland.

Für Zuschauer ist die Inszenierung um die Konkurrenz der Möchtegern-Kanzlerkandidaten Angela Merkel und Edmund Stoiber reizvoll, aber nicht mühelos. Man muss schon Freude am Um-die-Ecke-Denken mitbringen. Nichts in der Union ist derzeit, wie es scheint. Die neueste Szene wurde am Wochenende aufgeführt und wirft die Frage auf, warum gerade Merkel-Freunde für Stoiber sind – und warum die meisten Stoiber-Unterstützer wollen, dass Merkel stark dasteht.

Ausgerechnet Peter Müller, Christian Wulff und Eckardt Rehberg gehören offenbar zu den Anführern einer Truppe hochrangiger CDUler, die ihre Parteivorsitzende in der Weihnachtspause auffordern wollen, zugunsten des CSU-Chefs auf die Kanzlerkandidatur zu verzichten. Im Gegenzug soll Merkel nach der Wahl 2002 zusätzlich den Vorsitz der Bundestagsfraktion übernehmen. Wie der saarländische Ministerpräsident Müller kommt auch Wulff, der Oppositionsführer in Niedersachsen, eher aus dem Merkel-nahen Lager. Rehberg ist immerhin Merkels Nachfolger als CDU-Landesvorsitzender in Mecklenburg-Vorpommern.

Die Frondeure sind keineswegs die ersten Merkel-Sympathisanten, die sich Stoiber als Kandidaten wünschen. Das paradoxe Kalkül der falschen Stoiber-Freunde erklärt ein ausgewiesener Liberaler in der Bundestagsfraktion mit mittelfristigen Vorteilen: Stoibers Chancen auf einen Wahlsieg 2002 sind kaum besser als die Aussichten Merkels. Wenn aber der stramme CSU-Mann diesmal verliert, dann ist auch für die Wahl 2006 die „Hardliner-Option“ verbrannt. Insbesondere der bei liberalen Christdemokraten gefürchtete hessische Rechtsaußen Roland Koch hätte dann schlechte Karten. Stattdessen könnte ein liberaler Kandidat die Union gegen einen bis 2006 schon recht verbrauchten Kanzler Schröder führen. Ein Name, der in diesem Zusammenhang fällt: Peter Müller.

Wer allerdings glaubt, das kleine Mädchen wandere bei all den Rankünen ahnungslos durch ihr Wunderland, kennt die CDU-Vorsitzende schlecht. Von dem Geheimtreffen am Rande des CDU-Parteitags letzte Woche in Dresden berichteten am Wochenende mehrere Medien gleichzeitig. Das nährt den Verdacht, Merkels Parteizentrale könnte „die Verschwörung“ gezielt aufgedeckt haben. In der Welt am Sonntag wartete Merkel jedenfalls schon mit Hohn über die Frondeure auf: „Die Angst vor mir muss groß sein.“

Der bayerische Ministerpräsident hat auf der CSU-Klausurtagung in Wildbad Kreuth die Berichte über eine „Verschwörung“ mit Erzürnen gelesen, wie man aus den heftigen Reaktionen seiner Adlaten schließen kann. Ihm passt die Enthüllung schlecht in die Strategie, arbeitet er doch an einem Paradox eigener Machart: Er will, heißt es immer wieder, seine Konkurrentin nach Kräften stärken – so lange, bis sie ihm ohne Gesichtsverlust die Kanzlerkandidatur antragen kann. Auch auf die Idee, Merkel im Tausch den Job des CDU/CSU-Fraktionsvorsitzenden Friedrich Merz zu schenken, dürfte Stoiber schon gekommen sein. Wem die Enthüllungen mehr schaden, ist alles andere als eindeutig. Merkel hat wichtige Helfer im eigenen Lager verloren, gleichzeitig liegt die Schuld am Ende des Friedens von Dresden bei den Unterstützern Stoibers – auch das sieht das Partvolk mit Missbilligung.

So sind die Episoden vom Wochenende symptomatisch für das Spiegellabyrinth, als welches sich die Union derzeit darstellt. Wer in der K-Frage welches Spiel mit welchem Hintergedanken und welchem Erfolg betreibt, wird nicht nur für die Öffentlichkeit zunehmend undurchschaubar. Auch die Akteuren dürften allmählich den Überblick verlieren.

Wie weit sich die Kandidatenfrage von objektiven Kriterien entfernt hat, zeigt die parteiiinterne Diskussion um Stoibers Qualitäten. Dass der Ministerpräsident der profiliertere Politiker ist, ist in CDU wie CSU unumstritten. Deshalb sind seine Chancen größer, Kanzler zu werden, sagen die einen. Deshalb sind seine Chancen geringer, meinen die anderen. Warum die größeren Qualitäten zu den schlechteren Aussichten führen können, erklären Stoiber-Gegner so: Wegen seines klaren Profils spricht er die wahlentscheidenden Wechselwähler nicht an, Rot-Grün kann gegen ihn besser mobilisieren – und Schröder steht erneut als Mann der Mitte da. Stoibers eifrigster Fürsprecher heißt darum Franz Müntefering, der SPD-Generalsekretär.

Wahr ist: Zweimal schon in den letzten zwanzig Jahren war der stärkere Kandidat am Ende der unterlegene. Im Vergleich zu Franz Josef Strauß galt Helmut Kohl als Schluffi, trotzdem hat Strauß die Wahl 1980 verloren und Kohl die Wahl 1983 gewonnen. Schröder wiederum galt im Vergleich mit dem SPD-Chef Oskar Lafontaine als weniger helle, weniger erfahren, weniger rhetorisch begabt, weniger charismatisch. Kanzler wurde er trotzdem.

Kohl wie Schröder waren genauso machtbewusst wie ihre Rivalen, aber sie wussten auf ihren Moment zu warten. Genau darin ist auch Angela Merkel gut. Wenn sie es jemals ins Kanzleramt schaffen sollte, dann wahrscheinlich nicht auf dem geraden Pfad. Vom Weg zum Glück auf Umwegen handelt übrigens ein schönes Buch: Alice im Wunderland.