Die Lehren der Geschichte

Nach dem Krieg verlangten die Alliierten, Polizei und Geheimdienst zu trennen. Das Prinzip ist längst durchlöchert – auch ohne Schilys Sicherheitspaket

Der Geheimdienst eroberte Gebiete, die zuvor als Domäne der Polizei galten

von WOLFGANG GAST

Der Mann hatte seine Hausaufgaben gemacht, seinen Auftritt hatte er gut vorbereitet. Wiederholt hämmerte Rainer Kesselring dem Auditorium ein: Noch einmal dürfe es ein „Auschwitz in the sands“ nicht geben. Ob die Damen und Herren etwa schon vergessen hätten, was damals los war, als bekannt wurde, dass das schwäbische Unternehmen Imhausen-Hippenstiel beim Bau der Giftküche im libyschen Rabta mitmischte?

„Auschwitz in the sands“ – das war für Kesselring, den ersten Direktor und Abteilungsleiter beim Bundesnachrichtendienst (BND), mehr als das von US-Medien geprägte Synonym für das außenpolitische Versagen der Bundesrepublik. Es war für ihn der Inbegriff für das Scheitern des eigenen Dienstes. Nur: Schuld daran trugen andere. Allen voran der Gesetzgeber. Der hatte dem BND untersagt, „zufällig“ erlauschte Erkenntnisse aus dem Fernmeldeverkehr von der und in die Bundesrepublik zu verwenden – und an die Strafverfolgungsbehörden weiterzuleiten. Höchste Zeit also, dass sich das ändert.

Und es sollte sich schon bald ändern. Im April 1994 hatte der CSU-Mann Kesselring seine Forderungen auf einem Forum der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung erhoben. Wenig später erhielt der Pullacher Dienst die lang ersehnte Befugnis, seine Erkenntnisse den Strafverfolgern liefern zu dürfen. Polizei und Geheimdienste durften ihre Zusammenarbeit einmal mehr ausweiten. Die Politik höhlte das Trennungsgebot zwischen Ermittlungsbehörden und Nachrichtendiensten, schon damals unterlaufen, noch weiter aus.

Als der Parlamentarische Rat 1949 die Aufgaben von Polizei und Geheimdiensten strikt trennte, tat er das nicht auf eigenen Antrieb. Die Westalliierten hatten diesen Schritt ausdrücklich veranlasst. Sie bestimmten in dem so genannten „Polizeibrief“ vom 14. April 1949 an den Verfassungsgesetzgeber, dass eine dem „Legalitätsprinzip“ unterworfene Polizei von den Nachrichtendiensten mit ihrer geheimen Informationsbeschaffung strikt getrennt arbeiten müsse.

Mit dieser Anweisung sollte die neue Demokratie den schlimmen Erfahrungen mit Hitlers Geheimer Staatspolizei (Gestapo) Rechnung tragen. Der Trennungsgrundsatz ist seit 1951 in allen Verfassungsschutzgesetzen des Bundes und der Länder festgeschrieben: Die Nachrichtendienste besitzen keine polizeilichen Befugnisse, den Ermittlungsbehörden ist die Anwendung nachrichtendienstlicher Mittel verboten.

Doch von dieser Linie wichen die Innenpolitiker mit den Notstandsgesetzen und bei der Verfolgung der Roten Armee Fraktion in den Siebzigerjahren ab. Unter dem Druck mangelnder Fahndungserfolge ließen sie erst den Informationsaustausch zwischen Polizei und Geheimdiensten wieder zu. Später schrieben sie ihn im „Zusammenarbeitsgesetz“ sogar zwingend vor.

Schließlich übernahmen polizeiliche Organisationen wie der Bundesgrenzschutz Aufgaben für den Verfassungsschutz. Zum Beispiel klärten die Grenzschützer Funkaktivitäten ausländischer Geheimdienste in der Bundesrepublik auf. Im November 1989 konstituierte sich eine „Koordinierungsgruppe Terrorismusbekämpfung“. Dort berieten Vertreter des Bundeskriminalamtes und der Bundesanwaltschaft gemeinsam mit Abgesandten des Verfassungsschutzes und des Bundesnachrichtendienstes über Strategien zur Terrorismusbekämpfung.

Mitte der Neunzigerjahre entstanden ähnliche Gremien, um den Rechtsextremismus zu bekämpfen. Der Verfassungsschutz weitete sein Tätigkeitsfeld immer mehr aus – auf Gebiete, die zuvor als Domäne klassischer Polizeiarbeit galten. So geriet beispielsweise der Sektenkonzern Scientology ins Visier der Verfassungschützer, trotz heftiger Proteste der Polizeibehörden.

Bayern und Baden-Württemberg preschten an anderer Stelle vor. Sie setzten die Organisierte Kriminalität auf die Agenda ihres jeweiligen Landesverfassungsschutzes. Zur Drogenbekämpfung setzen sowohl das Bundeskriminalamt als auch der Bundesnachrichtendienst Verbindungsbeamte in den Anbauländern ein. Gelegentlich nimmt der Verfassungschützer gleichzeitig die Arbeit des Polizisten wahr – oder umgekehrt.

Wie wenig das Trennungsgebot heute noch gilt, zeigt exemplarisch eine Aussage des früheren Bundesinnenministers Manfred Kanther. Vollmundig kündigte er im März 1998 an, die „Hürden bei der Zusammenarbeit zwischen Geheimdienst und Polizei zu beseitigen“. Er wolle die „Informationsblockade“ zwischen den Behörden aufheben.

Im Zeichen der Anschläge vom 11. September weitet Kanther-Nachfolger Otto Schily (SPD) die Aufgaben der Sicherheitsbehörden noch einmal aus. Dabei weicht er die Trennung zwischen Polizei und Nachrichtendienst völlig auf. Während die Polizei nach dem „Legalitätsprinzip“ strikt an formale Verfahren gebunden ist, arbeiten die Geheimdienste nach dem „Opportunitätsprinzip“ – mit wesentlich größeren Freiräumen.

Verfassungsschutz, Militärischer Abschirmdienst und Bundesnachrichtendienst erhalten durch Schilys Gesetzespaket ganz neue Kompetenzen. Wenn schwere Straftraten drohen, könne sie bei Kreditinstituten und Finanzunternehmen unentgeltlich Auskünfte zu Konten, deren Inhabern und zu Geldbewegungen einholen. Dem Kunden darf die Bank das nicht mitteilen – ein Datenschutz der neuen Art.

Darüber hinaus darf der Verfassungsschutz künftig einen „vorbeugenden Sabotageschutz“ betreiben. Das bedeutet, dass er die Vita von Flughafenarbeitern, Wasserwerkern oder Rundfunktechnikern durchleuchten kann – und gegebenenfalls verhindern, dass sie den Job überhaupt bekommen. Wesentlich breitere Datenströme als bisher dürfen nach dem Schily-Paket nicht nur zwischen den Sicherheitsbehörden selbst fließen, sondern auch zwischen Sicherheits- und Sozialbehörden.

52 Jahre nach dem Erlass des alliierten „Polizeibriefes“ hat sich das Trennungsgebot in ein Trennungsverbot gewandelt.

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