: Inhaltliches Urteil umschifft
■ Krankenhaus Rissen: Ärzteschaft kämpft vor dem Arbeitsgericht für die Abschaffung gesundheitsschädlicher Bereitschaftsdienste
Offensichtlicher konnte es der Vorsitzende der 1. Kammer am Arbeitsgericht, Gunnar Rath, nicht zeigen, dass er wenig Lust hat, als erster Hamburger Richter über die neue Rechtslage Bereitschaftsdienst = Arbeitszeit ein inhaltliches Urteil zu fällen. Und so biss er sich an einer lapidaren Formalie fest, offenbar in der Hoffnung auf Vertagung, und dass sich die Kontrahenten wegen des Zeitdrucks außergerichtlich einigen. Doch da kassierte der Betriebsrat (BR) des Krankenhaus Rissen formal lieber eine Niederlage, um jetzt anderweitig in der Berufungsinstanz vorm Landesarbeitsgericht eine inhaltliche Entscheidung zu bekommen. „Das soll uns recht sein, besser konnte es gar nicht laufen“, so BR-Anwalt Klaus Bertelsmann.
Die Klinik-Leitung hatte die bisherige Betriebsvereinbarung (BV) Anfang des Jahres gekündigt, um aus Kostengründen den ÄrztInnen mehr minderbezahlte Bereitschaftsdienste (B-Dienste) aufzudrücken. In der Einigungsstelle kam es zu keiner Entscheidung über eine neue BV, da der Vorsitzende und Richter keinen Schiedsspruch fällen wollte. Hätte er für den BR votiert, wäre die Klinik in Finanznöte geraten, hätte er für die Klinik-Position plädiert, würde er gegen geltendes EU-Recht verstoßen. Denn der Europäische Gerichtshof (EuGH) hatte bereits im Oktober 2000 entschieden, dass B-Dienste generell als Arbeitszeit bewertet werden müssen.
Der Betriebsrat schloss dennoch eine befristete BV ab, um den weiteren Klinik-Betrieb zu gewährleisten. Anschließend kündigte der Betriebsrat und ließ die Vereinbarung gerichtlich überprüfen. Denn in Rissen müssen ÄrztInnen pro Monat im Schnitt fünf bis sechs B-Dienste leisten – werkstags nach einem achtstündigen Regeldienst zusätzlich elf Stunden und an Sonn- und Feiertagen nach der normalen Schicht nochmals 16 Stunden.
Auch wenn die Abschaffung der B-Dienste durch zusätzliche Kos-ten und personelle Engpässe nicht kurzfristig realisiert werden kann, ist für den BR mittelfristig die Ignorierung des bindenden EuGH-Urteils kurzsichtig. „Vorausschauende Kliniken haben angefangen, den Markt an Fachärzten abzugrasen und Ärzte einzustellen“, sagt der Internist und Rissener BR-Vizechef Nikolas Jürs. Denn B-Dienst-Systeme seien durch Verdichtung in der Medizin gesundheitlich nicht mehr zumutbar und antiquiert, da es kaum noch Ruhephasen wie vor 20 Jahren gebe.
Die Rissener Klinik gerät nun unter Druck, denn die BV läuft im Februar aus. Jürs: „Bisher haben wir das so mitgestaltet, dass der Betrieb möglich ist, jetzt müssen sie uns überreden.“ Magda Schneider
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