„Kindern verschlägt es die Sprache“

Nach Pisa I: Lesebehinderungen beginnen nicht mit 15, sondern von klein auf, warnt der Geschäftsführer der Stiftung Lesen, Klaus Ring. Ein Viertel der Vierjährigen hat heute Sprachentwicklungsstörungen und eine eingeschränkte Hirnentwicklung

Interview CHRISTIAN FÜLLER

taz: Die Pisa-Studie stellt deutschen Schülern kein gutes Zeugnis aus. Hat Sie das überrascht?

Klaus Ring: Nein, überhaupt nicht. Wir sind fast ein bisschen froh darüber, dass das Thema Leseverständnis oder besser Lesebehinderung nun endlich den Stellenwert bekommt, der ihm gebührt. Es wird allerhöchste Zeit, dass sich die Gesellschaft das Problem über das Fachpublikum hinaus bewusst macht.

Woher kommt Ihr Befund?

Uns liegt ein Bündel von Untersuchungen vor. Klinische wie empirische Studien weisen seit einiger Zeit nach, dass es einen dramatischen Verlust der Lesekompetenz gibt. Das ist zum Beispiel bei den rund 15 Prozent Lehrstellenbewerbern so, die wegen ihrer abenteuerlichen Deutschkenntnisse keine Stelle bekommen. 10.000 junge Menschen verlassen die Schulen jährlich als Quasianalphabeten. Der neueste internationale Vergleich zeigt, dass unter den Deutschen im erwerbsfähigen Alter etwa 15 Prozent massive Probleme mit dem Lesen und Schreiben haben. Und das ist nur die Spitze des Eisberges, denn dahinter steckt noch ein gravierenderes Problem: das Sprachproblem.

Was meinen Sie damit?

In einzelnen Städten liegt der Anteil von kleinen Kindern mit Sprachentwicklungsstörungen heute bei 25 Prozent. Das sind, wohlgemerkt, dreieinhalb bis vierjährige Kinder aus deutschen Familien. Die Häfte von ihnen ist so nachhaltig gestört, dass sie eigentlich logopädisch behandelt werden müssen.

Haben sich diese Störungen in den letzten Jahren verändert?

Ja – und zwar dramatisch. Vor 10 Jahren lag der Anteil dieser sprachgestörten Kleinkinder noch bei vier bis fünf Prozent. Einem großen Teil der Gesellschaft verschlägt es die Sprache.

Welche Bedeutung hat lesen und sprechen lernen für die Entwicklung des Kindes?

Wenn Kinder in den ersten Lebensjahren sprechen lernen, bilden sie durch das Sprechen, so unvollkommen es zunächst auch ist, die entsprechenden Strukturen im Gehirn aus. Die Natur gibt dem Menschen mit der Geburt zwar das Gerüst, die Architektur seines Gehirnes mit, sozusagen als lebensnotwendige Grundausstattung, als Hardware. Die Software muss aber erst noch geschaffen werden.

Aber das Hirn wächst doch?

Ja, nur wachsen die Nervenzellen nicht allein, sie strukturieren sich auch. Das Gehirn wird verschaltet. Das geschieht aber nicht naturwüchsig, sondern nur durch Reize von außen – zu den ersten Reizen gehören Laute und der Versuch, auf diese Laute zu antworten. Sprachentwicklung ist ein schöpferischer Vorgang, der weit über das hinausgeht, was durch das Erzeugen von Lauten hörbar ist. Sprache wird heute als höchstintegrierte Gehirnleistung des Menschen angesehen.

Sind die Kinder dümmer als vor zehn Jahren?

Nein, das sind sie nicht. Sie bekommen aber offenbar weniger Chancen eingeräumt, sich zu entwickeln.

Was bedeutet das für die Wissensgesellschaft?

Wenn man sich die Sprach- und Leseprobleme bei Kindern ansieht, wäre es wohl angemessener von einer Zwei-Klassen-Wissensgesellschaft zu sprechen. Wir stellen schon seit längerem fest, Pisa bestätigt es jetzt, dass die Lesemüdigkeit in den sozialen Unterschichten viel weiter verbreitet ist als im Durchschnitt. Die Gefahr ist objektiv vorhanden, dass sich bald Hochqualifizierte und wenig Bildungsfähige gegenüberstehen. Für eine Wissensgesellschaft ist das fatal. Es gibt doch kaum noch Tätigkeiten für Ungelernte. Die kognitiven Anforderungen an den Einzelnen steigen ständig.

Inwieweit ist die Schule dafür verantwortlich?

Die Schule, der große Lernort. Wir müssen gerade in der Grundschule viel gezielter und individueller fördern. Der Entwicklungsstand der Kinder, die in die Grundschule kommen, ist sehr unterschiedlich. Also brauchen die Kinder individuelle Hinweise, damit die Grundschule nicht Nachteilsverstärker, sondern endlich ein Sprungbrett ins Leben wird. Genauso wichtig sind aber auch die Kindergärten. Wir müssen sie in die Lage versetzen, auf die Kinder einzugehen. Das bedarf natürlich ganz anderer Ausstattungen. Natürlich gibt es fabelhafte Kindergärten. Aber die allermeisten kämpfen mit Problemen, die sie ja gar nicht zu vertreten haben. Talente werden in den Kindergärten gefördert und entdeckt.

Die Politik gibt schon die ersten Antworten: Man fordert sich gegenseitig zum Rücktritt auf.

Insgesamt hat keine Partei Grund, sich als besonders bildungsfördernd herauszustellen, jedenfalls nicht im Grundschul- und im Vorschulbereich. Die Misere ist allgemein. Die Ursachen liegen in der Gesellschaft. Es kommt daher, wie wir mit Kindern umgehen. Wir haben den Kindergarten als einen Bereich angesehen, der von selbst funktionieren muss. Da werden die Kinder früh abgelegt und später wieder aufgesammelt – für alles, was dazwischen geschieht, interessieren wir uns doch im Grunde nicht. Das höre ich auch aus Gesprächen mit Politikern jeder Couleur: Damit befasst sich keiner. Deswegen bin ich so dagegen, jetzt über die Schulen herzufallen.

Was kann man tun?

Ich will eine klare Diagnose in der Bildungspolitik. Damit wir endlich koordiniert das Problem angehen können. Dazu brauchen wir eine konzertierte Aktion.

Wie kann die aussehen?

Wir müssen unser Bildungssystem umorientieren. Die frühe schulische Entwicklung muss in den Fokus gerückt werden. Und zwar mit erheblichen Mittelzuflüssen. Reich genug ist die Gesellschaft, sie muss es nur wollen.