„Unser Schulsystem verstärkt soziale Nachteile“

Nach Pisa II beschreibt der Bildungsforscher Rainer Lehmann eine typisch deutsche Bildungskarriere: zu Hause nicht gefördert, in Kindergarten und Grundschule unterfordert, früh in die Aufsteiger- und Absteigermilieus verschiedener Schulformen sortiert und mit Routineunterricht gelangweilt

taz: Ist das, was die Pisa-Studie für Deutschland aufgedeckt hat, die Neue Soziale Frage oder die Bildungskatastrophe?

Rainer Lehmann: Es gilt beides. Das absolute Abschneiden der Deutschen ist eine Katastrophe, die uns jetzt zum dritten oder vierten Mal vorgeführt wird. Hinzu kommt, dass unser Schulsystem Nachteile sozialer Herkunft nicht etwa ausbügelt, sondern sie verstärkt.

Haben Sie ein Beispiel dafür?

Wir wissen, dass das Kind eines ungelernten Arbeiters nur einen Bruchteil der Chance des Arztsohnes hat, für das Gymnasium empfohlen zu werden – bei gleichem Lernstand. Das ist eine manifeste Ungerechtigkeit, die nach Erklärung verlangt und auch nach Korrektur.

Was ist der Grund dafür, dass Schule die Schere zwischen den Talenten weiter öffnet?

Wir haben kein Instrument in der Schule, um die besonders begabten Kinder von ungelernten Arbeitern überhaupt zu finden. Klassenarbeiten sind dafür offenbar nicht geeignet.

Trägt nicht das in Haupt- und Realschule sowie Gymnasium gegliederte Schulsystem zu der Spaltung bei?

Der Zusammenhang zwischen Fachleistung und sozialer Herkunft ist in Deutschland am größten. Das ist skandalös, hängt aber nicht mit der schulorganisatorischen Frage zusammen. Dieser Mechanismus ist auch in der Gesamtschule da.

Die soziale Sortierung?

Innerhalb ihrer Schülerschaft selektieren Gesamtschulen und betreiben eine schärfere Auslese als manche Haupt- und Realschulen.

Wie wirkt das dreigliedrige Schulsystem aus Ihrer Sicht?

Es spaltet die Schülerschaft nach Leistung auf und reproduziert zusätzlich soziale Schichtungen. Verkürzt gesagt: Es schafft Aufsteiger- und Absteigermilieus. Das hat auch sozialräumliche Ursachen.

Was meinen Sie damit?

Wohnquartiere mit starken Konzentrationen von Einkommensschwachen kombiniert mit ausländischen Bürgern sind das Milieu für die ansässigen Grundschulen. Dort spiegeln sich die sozialen Disparitäten fast eins zu eins in den Leistungsbildern der Grundschulen wieder. Und so geht es weiter. Bestimmte Grundschulen fungieren als Zulieferer für bestimmte weiterführende Schulen. Egal, ob das dann eine Hauptschule oder ein Gymnasium ist – es wird eine Problemschule in ihrem Bereich.

Wenn wir uns die „schlechten Schüler“ genauer anschauen. Wer ist das?

Es sind Kinder aus den bildungsfernen Schichten, die unter einer ganzen Reihe von Defiziten leiden, also mangelnden Entwicklungsmöglichkeiten. Das Artikulationsvermögen der Eltern ist nicht besonders gut entwickelt. Die Erziehungsstile sind, wie es scheint, nicht gut: Fragen der Kinder werden zu kurz oder nicht zufriedenstellend beantwortet. Bildungsrelevante Ressourcen wie Bücher, Lexika oder auch Computer sind weniger vorhanden. Stattdessen wird in diesen Familien in Videogeräte investiert. Der wichtigste Faktor ist zweifellos die Sprache. Kinder aus Migrantenfamilien haben es besonders schwer.

Früher kannte man das katholische Arbeitermädchen vom Lande als Bildungsbenachteiligte. Und heute?

Man könnte annehmen, dass es das Mädchen aus einer Migrantenfamilie aus der Großstadt ist. Das ist aber falsch. Mädchen sind generell leistungsfähiger als Jungen. Wir finden Jungen, deren kognitive Voraussetzungen viel besser sind als ihre Leistungen. Manche Jungen scheinen es cool zu finden, nicht gut in der Schule zu sein. Dieses Phänomen ist bei deutschen Jungen übrigens häufiger anzutreffen als bei ausländischen.

Nach Pisa sprechen plötzlich alle davon, die Unterrichtsqualität zu erhöhen. Warum?

Weil man festgestellt hat, dass deutsche Lehrer es gewohnt sind, sehr kleinschrittig ein Frage- und Antwortspiel zu veranstalten und das anschließend routinemäßig immer wieder durchzuziehen. In Japan ist das ganz anders: Der Unterricht scheint dort intellektuell anspruchsvoller zu sein – wovon auch die Leistungsschwachen profitieren.

Aber sind japanische Lehrer nicht Drill-Lehrer?

Das exakte Gegenteil ist der Fall. Die Lehrer scheinen dort auf mehreren Kanälen an alle Leistungsgruppen in der Klasse zu senden. Sie stellen Aufgaben, die sowohl diejenigen lösen können, die ganz konkret rechnen, als auch andere, die an einer Formel arbeiten, um das Problem generell zu lösen.

Woher kommt diese Didaktik?

Solche Aufgaben fallen nicht vom Himmel. Sie werden von Spezialisten entwickelt, immer wieder erprobt und perfektioniert. Es ist fast wie die Anekdote vom japanischen Maler, der für den Kaiser das Bild eines Huhns zeichnen soll. Er übt das jahrelang. Und als sich der Kaiser beschwert, dass das Bild immer noch nicht fertig sei, malt er es genialisch mit wenigen Strichen. Unterricht als ein Kunstwerk – das gibt es bei uns zu selten.

Es gibt Leute, die sagen: Im gegliederten Schulwesen geht eine solche Unterrichtskultur nicht, weil man die schlechten Schüler einfach in eine andere Schule schicken kann.

Dann müssten Gesamtschulen anders aussehen. Tun sie aber nicht . . .

. . . weil es in der Gesamtschule genauso gemacht wird. Dort heißt es täglich: Du gehörst hier nicht hin und gehst in den Grundkurs.

Es geht um die Fähigkeit von Lehrkräften, mit Heterogenität umzugehen. Über die konkreten Ansätze dazu will ich nicht spekulieren, da wissen wir empirisch zu wenig.

Aber einer muss es doch mal sagen. Die Finnen kriegen das doch ganz hervorragend hin, was bei uns so schief geht.

Die finnischen Kollegen berichten von einem wichtigen Umstand: Es ist in Finnland gelungen, den Lehrerberuf zu einem Beruf mit sehr hohem Prestige zu machen. Die haben in manchen Studiengängen zehnmal so viele Bewerber wie sie tatsächlich aufnehmen können. Bei uns ist das Gegenteil der Fall. Schauen Sie sich mal die Notendurchschnitte derer an, die ein Lehramtsstudium beginnen.

Was passiert genau bei schlechtem Unterricht mit den Kindern?

Ihre Lebenszeit wird verschwendet. Wenn man ihnen in der zweiten Klasse sagt, „es macht nichts, wenn du jetzt noch nicht lesen kannst, das kann auch drei Jahre dauern“, dann ist Zeit vergeudet. So steht das aber in manchen Lehrplänen. Warum sollten heutige Kinder, von denen wir wissen, dass sie kognitiv mehr leisten können als frühere Generationen, nicht in der Lage sein, lesen zu lernen? Ein anderes Beispiel ist das absolute Tabu für den Umgang mit Buchstaben und Ziffern in den Kindergärten. Es gibt Kinder, die das früh interessiert. Wieso dürfen die sich nicht mit dem Alphabet und mit Zahlen beschäftigen? INTERVIEW: CIF