harald fricke über Shopping
: In den schönen Klauen des Konsums

Heute kann sich keiner mehr Blechspielzeug leisten. Gut so, denn nur Hightech-Kram schult die Kinder realitätsnah

Alles läuft schief. Wenn die Schuhe nicht passen, ist der Fuß angeblich zu dick. Wenn der Mantel an den Armen zu kurz ist, liegt es an der eigentümlichen Physiognomie, meint die Verkäuferin. Aber als das Buch, das man schon vor vier Wochen bestellt hat, noch immer nicht geliefert werden kann, wird man knapp mit dem Hinweis auf die große Nachfrage abgefertigt – „was glauben Sie denn, was hier los ist, so kurz vor Weihnachten?“.

Einigermaßen bedripst stehe ich nun draußen vor dem Berliner Kaufhaus des Westens und warte auf den Bus. Unterdessen drückt sich eine Mutter von zwei Kindern die Nase an den Schaufensterscheiben platt, weil dahinter bergeweise Blechspielzeug aufgebahrt ist: Willkommen in den Puppenstuben der Jahrhundertwende, auf ein schönes, gutes 1902!

Plötzlich wirkt sie ganz beglückt. Die Frau, keine 40 Jahre alt, erklärt ihren staunenden Kleinen, wie sehr sie sich immer gefreut hat, wenn sie zu festlichen Anlässen bei ihrer Großmutter auf Besuch war und mit den Überbleibseln aus der Kindheit ihrer eigenen Mutter spielen durfte, denn „so etwas Gutes wurde früher ja nicht einfach weggeworfen“. Aber „heute sind solche Schätze leider unbezahlbar geworden“, seufzt sie. Deshalb gibt es zu Weihnachten auch keine Miniaturbratpfannen aus Blech, keine daumennagelgroßen Persil-Kartons und keine Porzellanpüppchen mit Echthaar, sondern bloß Harry Potter auf CD, als Hörspielkassette oder interaktiv für den Computer.

Ich kann die Bekümmerung der Mutter nicht teilen. Mir ist das Gejammer über unpersönliche Hightech-Geschenke anstelle von unpersönlichem Blechkitsch völlig fremd. Dass sich die Produktpalette für den Gabentisch verändert hat, ist doch ein riesiger Fortschritt. Was in früheren Jahren von Elternhand zu treuen Second-Händen an altmodischem Nippes weitergereicht wurde, hätte schon ich meinerzeit eher als Kränkung empfunden: Warum sollte die abgelegte Märklin-Bahn meines Onkels ein besonders von Herzen kommendes Geschenk für einen Zehnjährigen sein, der viel lieber mit Speed-Cars von Mattel gespielt hat?

Eine Kindheit in den Siebzigerjahren stand unter dem absoluten Bekenntnis zur Modernität. Spirograf ja, Kasperletheater nein, das schaute man sich nicht einmal mehr im Kolping-Haus an, schließlich gab es doch Fernsehen. Und was im Fernsehen gezeigt wurde, das wollte man haben, dafür war schließlich die Werbung da: Hot Wheels und Barbies, Playmobil und Stratego. Die einen mögen darin nur die Klauen des Konsums erkennen, der damals viele, wenn nicht alle Kinder fest im Griff hatte. Doch der Konsum war ein wichtiges Bindeglied zum Alltag, die Initiation in eine sich mit dem Lifestyle wandelnde Welt – so wie Jeans ohne Markennamen kein akzeptabler Übergang von der Seppelhose zum Teenagerlook gewesen wären.

Mit den Geschenken normalisierte sich auch die Republik. Was nach dem Krieg noch mit Notgroschen an Naschwerk für die Bescherung zusammengeklaubt wurde, kam nun in bunten Weihnachtsverpackungen von Karstadt oder Hussel. Ehemänner schenkten ihren Frauen auch keine laufmaschenresistenten Strumpfhosen mehr, sondern herausgeputzte Parfümflaschen – Chanel statt 4711.

Die in den Jahren der Armut zuvor abverlangte Bescheidenheit schlug in einen begeisterten Willen zum Luxus um, den die Kinder meines Jahrgangs vermutlich als gegeben hinnahmen. Zugleich lag in dieser Selbstverständlichkeit ein ausgeprägter Sinn für die realen (Tausch)Werte: Ein Kind, das sich über den Preis einer Autorennbahn im Klaren war und praktische Geschenke wie etwa neue Handschuhe missbilligte, ließ sich kaum damit trösten, dass Weihnachten doch ein Fest der Liebe sei und jede gut gemeinte Geste daher angebracht. „We want the world – and we want it now“, der Kampfruf der Doors hätte jeder Pädagogisierung durch Präsente entgegengestanden.

Waren die 70er- und 80er-Jahre solchermaßen vom Hedonismus geprägt, so hat die Welt von heute zusätzlich einen gewaltigen Technologieschub erfahren. Das wissen vor allem Eltern: Plötzlich ist von Angst vor der Mathematikschwäche ihrer Kinder die Rede und von naturwissenschaftlichem Analphabetismus. Der Hightech-Spielkram wäre dabei eine ganz passable Einübung in kommende Wirklichkeiten. Wer vor der Aussicht auf ein digital und medial organisiertes Leben in die Heimeligkeit aus Blech und Porzellan abtaucht, tut seinen Kindern kaum etwas Gutes, indem er sie zu zukünftigen Modernisierungsverlierern erzieht.

Und überhaupt war es doch schon zu Weihnachten 1975 so: Die Rennbahn hatte der Vater gleich nach dem Gänsebraten für sich in Beschlag genommen, die Barbies wurden von Mutter bis Mitternacht gekämmt. Die Kinder mussten sich mit dem Spielen bis zum nächsten Morgen gedulden.

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