Das Lachen der Kulturen

DAS SCHLAGLOCH von KERSTIN DECKER

Beim Buddenbrooks-Wiederlesen spürt man die Sympathie für die untergehende Welt. Auch ein Stolz

Der Weihnachtskalender ist schön. Marktplatz, Palme und Flötenspieler unterm Dattelbaum. Und, nun gut, ein Minarett. Mit Halbmond. – Mann, ich glaub’s nicht, ein Ussama-Bin-Laden-Weihnachtskalender!, rief ein neutraler Beschauer und sah mich mit metaphysischer Traurigkeit an. – Kunstkalender!, erwiderte ich beherzt. Schließlich wurde das Christkind nicht im deutschen Wald geboren. Und bis untern Tannenbaum hätten die Heiligen Drei Könige es nie geschafft. Die drei Könige. Wieso kommen die eigentlich aus dem Morgenland? Und dann noch mit Geschenken? Ein kurzes Milzbrand-Alarmleuchten steht in den Augen des Weihnachts-Kunstkalender-Kritikers. Nun fragen wir uns doch mal ernsthaft: Ist es nicht verdächtig, dass die Morgenländer Geschenke mitbrachten?

Es stimmt wirklich, es ist nichts mehr so, wie es letztes Weihnachten noch war. Wahrscheinlich muss in diesem Jahr sogar die Weihnachtsgeschichte ausfallen. Oder wer soll die Heiligen Drei Könige aus dem Morgenland spielen?

Noch Thomas Mann kannte zwei Wurzeln der abendländischen Zivilisation. Das Christentum und die griechische Philosophie. Thomas Mann irrte. Er hat den Weihnachtsstern nicht beachtet. Flugobjekt mit Feuerschweif hinten dran und davor die drei üblichen Verdächtigen mit Bart, von denen keiner genau weiß, woher sie kamen. Das ist keine Gründungsurkunde der abendländischen Zivilisation, das ist ganz eindeutig islamistische Propaganda, beschloss der Ussama-Bin-Laden-Weihnachtskalenderkritiker nach einer Flasche Rotwein.

Aber kann man den Advent noch widerrufen, wo wir alle so voller Erwartung sind? Die afghanischen Städte fallen noch schneller, als man die Advents-Türen öffnen kann. Jetzt warten wir auf Tora Bora, die Bergfeste, und Bush will, dass dieser Advent nie aufhört. Da ist viel zu viel Morgenland, findet er. Das ist elementare Sicherheitslogik. Wirklich sicher bin ich erst, wenn mein Feind nicht mehr existiert. Ob sie in Texas dieses Jahr die Weihnachtsgeschichte mit den drei Weisen aus dem Morgenland spielen werden?

Auf Rostocks größter Straße, gleich gegenüber der Marienkirche, hat ein fliegender orientalischer Teppichhändler aufgemacht. Advents-Sonderverkauf, nur die gehobene Klasse. Teppiche. Teppichmesser. Fliegende Teppiche. Wir hätten gewarnt sein müssen vor orientalischen Flugfantasien. Der Verkäufer, ein Patriarch in schwarzem Anzug, spricht fast akzentfrei deutsch. Der Laden ist fast leer, wir könnten uns sehr gut über die pakistanische Interpretation der Weihnachtsgeschichte unterhalten. Aber der Verkäufer hat etwas anderes vor. Er will mir einen Teppich verkaufen. Ich will keinen Teppich kaufen. Ich sage ihm das. Jetzt steht der Entschluss des Verkäufers fest. Denn ein guter Verkäufer ist, wer dir etwas verkauft, was du gar nicht willst. Vielleicht, denke ich, war Huntington mal bei einem arabischen Teppichhändler und hat hinterher den „Kampf der Kulturen“ geschrieben.

Die norddeutsche Kultur, eine entschiedene Sonderform der abendländischen, betritt die Teppichausstellung. Das ältere Rostocker Ehepaar besieht die „gehobene Klasse“ und gibt in breitem Plattdeutsch seiner ungeheuchelten Empörung über die gehobenen Preise der gehobenen Klasse Ausdruck und vergisst nicht den Hinweis, dass man im Kaufhaus dasselbe viel billiger haben könne. Laut schimpfend verlässt es den Raum. Der Patriarch schickt ihnen Worte und Blicke grenzenloser Verachtung hinterher. Einen hilflosen Anschein von Distinguiertheit wahrend, hängt der schwarze Anzug am Patriarchen. Ich weiß, ich muss jetzt den Teppich nehmen. Schon weil mich sonst die Verachtung des Verkäufers treffen würde. Dumpfe Materialisten, die nicht wissen, was ein guter Teppich ist.

Draußen, den Teppich unterm Arm, unterste gehobene Klasse, 0,70 x 1,60 m groß, weiß ich, dass der Verkäufer gar nicht anders konnte. Sein ganzer Stolz, seine Ehre stand auf dem Spiel.

Das unterscheidet einen orientalischen Teppichverkäufer von einer Hertie-Verkäuferin. Welche Hertie-Verkäuferin wäre im Innersten getroffen, wenn man ihr ins Gesicht sagte, dass Hertie wirklich der allerletzte Laden ist? Vielleicht hätte sie gelacht. Der Teppichhändler niemals. Kulturen sind Räume des Lachens. Ein Kulturkreis ist der Raum, in dem man über dieselben Dinge lachen kann. Lachen ist nicht übersetzbar. Insofern sind Kulturen hermetische Phänomene.

Darum trifft auch jedes Mal etwas anderes, wer auf das „Innerste“ zielt. Das „Innerste“ einer Hertie-Verkäuferin ist vermutlich bis zum Rand angefüllt mit ihr selbst; Kritiker solcher Konsistenz und berufsmäßige Misanthropen vermuten an dieser Stelle auch eine gähnende Leere. Ein orientalisches Teppichverkäufer-Innerstes enthält dagegen eine ganze kulturell-religiöse Tradition, und das „Ich“ ist außen drumgewickelt gewissermaßen zur Abgrenzung der individuellen Traditions-Portion.

Thomas Mann hat vor hundert Jahren mal einen Roman genau über dieses Problem geschrieben. Die Stellung des Verkäufers in Norddeutschland und der Verfall der Verkaufskultur. Wir haben das in der DDR, in der Schule, immer ein bisschen einseitig gelesen. Die „Buddenbrooks“, den „Verfall einer Familie“ als Untergang einer überholten Produktionsweise. Das Buch, erfuhren wir, geht schlecht aus, weil Thomas Mann in den Klassenschranken bürgerlichen Bewusstseins noch nichts vom Sieg des Proletariats wußte. Heinrich Breloer hat gerade einen Mann-Dreiteiler gedreht. Bei Breloer und beim Buddenbrooks-Wiederlesen spürt man die Symphathie für die untergehende Welt und alles, was mit ihr untergeht. Auch ein Stolz, eine Tradition.

Alle alten Kulturen – bis zum hanseatischen Kaufmannswesen – waren Kulturen des Stolzes und der Tradition. Stolz ist kein demokratisches Gefühl, es ist ein Ranggefühl. Demokratien haben verlernt, damit zu rechnen. Es ist gefährlich, jemanden auf seinen Stolz zurückzuwerfen. Er ist das verzweifelte Beharren auf dem Eigenen. Der islamische Antiamerikanismus begann mit dem zweitem Golfkrieg. Und jetzt will George Bush den nächsten Golfkrieg. Den gesamtmorgenländischen Golfkrieg. Für den Sieg von Menschenrechten und Demokratie in Ländern voller Teppichhändler-Egos?

Die afghanischen Städte fallen noch schneller, als mandie Adventstürchenöffnen kann

Thomas Mann sprach nicht von Demokratie, er sprach von Gesittung. Das Wort ist weiter. Es meint den Menschen als das Wesen, das sich eine Form gibt. Nicht nur die westliche Universalform. Thomas Mann und Bin Laden in der ARD, das ist der Advent 2001, der letzte Bürger und die Verwilderung der Welt.

Advent ist vorübergehender Umzug in die alten Formen. Die Welt wird ein Haus, ein Licht. Wir denken wieder in Bildern. Man könnte den Ussama-Bin-Laden-Weihnachtskalender uminterpretieren in einen multikulturellen Versöhnungskalender. Mit drei Königen als Botschaftern. Aber das religiöse Denken hat wohl schon andere Bilder. Die islamische Welt erinnert sich, dass bereits der Prophet sich verstecken musste. In einem Berg, genau wie Bin Laden. Mohammeds Höhle hieß Hira. Er blieb dort vor seiner Auswanderung nach Medina im Jahre 622.

Im Dezember werden die Märtyrer geboren. Ein gespenstischer Advent.

Fotohinweis: Kerstin Decker stammt aus Leipzig und lebt als freie Autorin in Berlin.