EU-Beitritt wichtiger als Atomrisiko

Heute werden die Verhandlungen zwischen der EU und Tschechien über Energiepolitik abgeschlossen. Die Mängel am AKW Temelín sind nicht behoben, aber inzwischen kein Thema mehr. Denn das könnte den Beitritt des Landes zur EU verzögern

aus Brüssel DANIELA WEINGÄRTNER

Das Streitthema Temelín ist offiziell abgehakt: Heute wird das Energiekapitel in den Beitrittsverhandlungen der EU mit der Tschechischen Republik geschlossen. Provisorisch zumindest. Denn die Vereinbarung über technische Nachrüstungen und Kontrollen im Atomreaktor Temelin, die der tschechische Ministerpräsident Miloš Zeman und der österreichische Bundeskanzler Wolfgang Schüssel am 29. November unter EU-Vermittlung zu Stande brachten, soll als Protokoll beigefügt werden. Hält sich Tschechien nicht an die Abmachungen, wird das Kapitel wieder geöffnet. Der Beitritt könnte sich verzögern – und der ganze Erweiterungsfahrplan wäre in Frage gestellt.

Kein Wunder also, dass Umweltschützer, Experten, grüne Politiker im Europaparlament, aber auch die Temelín-Spezialisten in Jürgen Trittins Umweltministerium seltsam wortkarg werden, wenn man nach dem Mehrwert dieser Vereinbarung fragt. Denn wer sie als unzureichend ablehnt, gerät in Verdacht, in Wirklichkeit die Erweiterung blockieren zu wollen. Und befindet sich damit in unappetitlicher Gesellschaft: Auch die Freiheitliche Partei von Jörg Haider in Wien sorgt sich derzeit schwer um die atomare Sicherheit in Südböhmen – mehr aus Aversion gegenüber den Tschechen als aus Sorge um die Umwelt.

Wolfgang Kromp ist Risikoforscher an der Universität Wien und hat das so genannte Schwarzbuch mit verfasst, das der österreichischen Regierung vor einem Jahr als Verhandlungsgrundlage diente. Damals wurde im Stift Melk unter Vermittlung der EU-Kommission der so genannte „Melker Prozess“ begonnen, der heute in der Brüsseler Vereinbarung seinen Abschluss findet. Obwohl Kromp die Risiken des Reaktors russischer Bauart ganz genau kennt, will auch er nicht deutlich sagen, ob seine Landsleute im atomfreien Österreich nun wieder ruhig schlafen können.

Ganz sicher bleibe das Dokument weit hinter den im „Schwarzbuch“ aufgelisteten Forderungen zurück. Zum Beispiel gebe es neue Ultraschallverfahren, um Risse im Druckbehälter und der Schutzhülle festzustellen. Da Block 1 bereits laufe, könnten sie erst in vier Jahren, beim Wechsel der Brennelemente durchgeführt werden. Nun wolle man Block 2 ebenfalls kontaminieren, ohne zuvor zu messen. Das sei unverantwortlich, denn nur so ließe sich feststellen, ob der Reaktordruckbehälter auch extremen Temperatur- und Druckschwankungen im Störfall standhält. Immerhin die gravierendsten Mängel, die „mit bloßem Auge“ zu erkennen seien, wie parallel laufende Frischdampf- und Speisewasserleitungen, stehen auf der Liste der Nachrüstungsmaßnahmen, zu denen sich Tschechien verpflichtet hat.

Experten, die mit den Innereien des in den 70er-Jahren von sowjetischen Wissenschaftlern entwickelten Kraftwerks vertraut sind, fragen sich allerdings, wo die neuen Leitungen Platz finden sollen. Niemand vermag vorauszusagen, wie sich die westliche Technik mit dem russischen Reaktor verträgt. Seit 1987 wird an ihm herumgebastelt – inzwischen reicht seine Bauzeit fast an die Laufzeit anderer AKWs heran. Der US-Konzern Westinghouse erhielt Anfang der 90er-Jahre den Zuschlag, ihn mit einem westlichen Steuerungs- und Kontrollsystem nachzurüsten. Gleichzeitig wurde die Leistung von 450 auf fast 1.000 Megawatt erhöht. Die Verknüpfung von US-Computern mit russischer Hardware hält nicht nur Wolfgang Kromp für sehr problematisch. Im Klartext heißt das: Temelín wird nie so sicher sein wie ein nach neuestem Stand der Technik aus einem Guss konstruierter Reaktor westlicher Bauart. Allenfalls mit den ältesten Kästen in Frankreich kann er sich messen.

Im Gegensatz zu diesen wird Temelín aber wesentlich länger am Netz bleiben und damit zur Zeitbombe. In eine EU, in der sechs Mitgliedsländer keine Atomkraftwerke besitzen, vier den Ausstieg beschlossen haben und in zwei weiteren ein Moratorium besteht, werden mittelfristig sieben AKW-Staaten mit veralteten Kraftwerken aufgenommen. Das wäre nur zu verhindern gewesen, wenn sich die Alt-EU beizeiten auf Mindeststandards für ihre AKWs als Teil des gemeinschaftlichen Besitzstands verständigt hätte. Dazu aber fehlte der politische Wille.

Kritikern bleibt nur die Hoffnung, dass die Nachrüstungskosten weit höher liegen als die von der tschechischen Regierung berechneten 100 Millionen Kronen (5,6 Mio. Mark). Dann fände sich vielleicht kein Betreiber mehr, der den teuren Kasten übernehmen will, und Temelín bliebe, was es ist: eine Investitionsruine.