Die letzte Feste fällt

Ultimatum zur Übergabe Tora Boras. Al-Qaida-Kämpfer hoffen auf Flucht nach Pakistan

aus Delhi BERNARD IMHASLY

Auf dem letzten Schlachtfeld des Afghanistankriegs, einer Vielzahl enger Täler im Safeh-Koh-Massiv, rückt die Entscheidung näher. Am Dienstag kam es erstmals zu einem Treffen von Vertretern der vermuteten Al-Qaida-Kämpfer und der Angreifer der „Ost-Allianz“. Laut Angaben der Taliban-Gegner in Dschalalabad hatte einer der beiden Kommandanten, Haji Zaman, eine Feuerpause angeordnet, um den eingekesselten Verteidigern von Tora Bora ein Ultimatum zu überreichen. Es wurde ihnen eine Frist bis acht Uhr am Mittwochmorgen eingeräumt, um sich – angeblich bedingungslos – zu ergeben.

Das Treffen folgte einem weiteren Tag von Angriffswellen von B-52-Bombern, die seit nun zwei Wochen pausenlos die bewaldete Nordflanke des Gebirgsmassivs anfliegen und dort die Höhleneingänge und die in den engen Taleinschnitten liegenden Trainingslager aufs Korn nehmen. Zum ersten Mal kam es dabei auch zu Abwürfen der schwersten Bomben im amerikanischen Arsenal – „Daisy Cutters“ – und der Zuhilfenahme von schwerer Artillerie am Boden. Dabei soll im Lauf des Tages eine große Basis der al-Qaida samt ihrer Panzer, der Bunker und der Trainingsanlagen vollständig zerstört worden sein.

Die Bereitschaft zu einem Treffen durch die von drei Seiten eingeschlossenen Verteidiger wurde in Dschalalabad als Indiz gewertet, dass der massive und schonungslose Druck vom Boden und aus der Luft einen Durchbruch erzielt haben. Journalisten, die sich in der Nähe der Frontabschnitte aufhalten, berichten, dass eine große Zahl, bis zu tausend Mann, ihre Bunker verlassen und sich auf die Bergkämme zurückgezogen hätten.

Die Sprengung von Bunkereingängen zwingt die Verteidiger, ihre Verstecke zu verlassen und sich dem Bodenkampf zu stellen. Den Angreifern kommt dabei zugute, dass sie in ihren Reihen zahlreiche Kämpfer zählen, welche das Geflecht der Täler und Bergrücken um Tora Bora aus der Zeit des Kriegs gegen die Sowjetbesatzer kennen. Unter den Partisanen sollen sich zudem ehemalige Taliban befinden, welche Informationen über die Positionen von Ein- und Ausgängen an die Amerikaner weitergeben können.

Das Massiv von Safed Koh („Weiße Berge“), deren Name auf ihre große Höhe – über 4.700 M. ü. M. – hinweist, war ein wichtiges Aufmarschgebiet für die Mudschaheddin. Dieser Gebirgsgrat mit einer Länge von rund 80 Kilometern bildet nämlich die Seite eines Dreiecks pakistanischen Territoriums, das tief nach Afghanistan hinein stößt. Die Gegend von Tora Bora bildet die Spitze dieses Dreiecks, von dem aus die Mudschaheddin damals Ausfälle und Störaktionen in drei Richtungen unternehmen konnten – nach Kabul im Westen, nach Dschalalabad und zum Khyberpass im Norden, und nach Khost und Gardez im Süden. Der Ausbau der zahlreichen natürlichen Höhlen und Gebirgsrisse und das Anlegen von Munitions- und Nahrungsmittellagern wurde bereits in den Achtzigerjahren begonnen. Ussama Bin Laden, der dieses Labyrinth aus seiner Vermittlungstätigkeit für die Mudschaheddin zweifellos gut kennen muss, soll vor fünf Jahren mit dessen systematischem Ausbau begonnen haben.

Der Safed Koh bildet die Grenze zu Pakistan, doch verläuft die Grenzlinie nicht entlang der Wasserscheide. Von pakistanischer Seite besteht daher die Möglichkeit, Fluchtwege über die Pässe relativ gut überwachen zu können. Die Regierung in Islamabad hat zwei reguläre Brigaden ins Grenzgebiet verschoben, zusätzlich zu Einheiten des paramilitärischen „Frontier Corps“ und so genannten „Khasadar“-Stammesmilizen. Dieser Teil pakistanischen Territoriums, die so genannte „Khurram Agency“, ist autonomes Stammesgebiet. Es ist laut pakistanischen Zeitungsberichten das erste Mal in der Geschichte des Landes, dass Armee-Einheiten hier zum Einsatz kommen.

Die Regierung musste dafür das Plazet von Stammesführern einholen. Der Armee-Einsatz ist nicht nur eine Vorsichtsmaßnahme angesichts eines schwer bewaffneten und verzweifelten Gegners. Er mag auch darauf hindeuten, dass Bin Laden und seine Al-Qaida-Kämpfer auf Sympathisanten unter den Stämmen zählen können, wenn sie die Flucht über die Pässe antreten. Für die Regierung dagegen wäre ein Flüchtling namens Ussama Bin Laden, nach den Millionen afghanischer Flüchtlinge, denen es in den letzten zwanzig Jahren Asyl gewährt hat, zweifellos der am wenigsten willkommene.