Poem auf den Tod

Von Individuum und Masse: Il weekend italiano mit dem jungen Schauspielhaus-Gastautor Gian Maria Cervo  ■ Von Annette Stiekele 

Italien ist für uns Sonne, Wein und Pasta – und was die Kultur angeht, vielleicht noch die Leichtigkeit von Dario Fo. Italien ist aber auch das Land Berlusconis, des G8-Gipfels in Genua, der Korruption und der Kriminalität. Es ist ein Land voller Widersprüche, in dem der Einzelne um die Verwirklichung seiner Identität inmitten von Familientraditionen und anderen Vermassungen ringt.

Die Kunst, das eigene Ich nicht zu verlieren und dabei doch Teil der Gruppe zu bleiben, das ist das Thema, das den italienischen Dramatiker Gian Maria Cervo umtreibt. 1970 in Neapel geboren, erwarb sich Cervo frühen Ruhm mit Bearbeitungen und Neuübersetzungen von Ben Johnson, Christopher Marlowe oder William Shakespeare. Er betreute das Festival Quartieri dell'Arte, das sich mit der Tradition des elisabethanischen Theaters befasst. Seit drei Jahren ist er außerdem in der Leitung des Sommerfestivals von Viterbo.

In dieser Spielzeit brütet er zusammen mit Dejan Dukovski und Roland Schimmelpfennig als Gast des Schauspielhauses in St. Georg über neuen Texten. Fürs erste präsentiert sich Cervo jetzt mit einem „italienischen Wochenende“, das mit der szenischen Lesung der deutschen Übersetzung von Del mio globo distratto im Neuen Cinema eröffnet wird. Das Stück entstand 1998 und wurde in Triest im Rahmen einer Werkschau zeitgenössischer italienischer Dramatik vorgestellt. Später wurde es am Teatro stabile di Trieste uraufgeführt. Der Titel, übersetzt Mein verrückter Erdball, ist ein Zitat aus Shakespeares Hamlet. Darin geht es um dessen berühmten Vorläufer, den Renaissancedichter Christopher Marlowe, der zurzeit landauf, landab neu entdeckt wird, zuletzt am Thalia Theater in Martin Kusejs famoser Inszenierung von Edward II..

Marlowe (1564 – 1593) war dem elisabethanischen Regime ein unbequemer Quergeist, der avantgardistische Theaterstücke schrieb und einen provokanten homosexuellen Lebensstil pflegte. Bei einer Messerstecherei in London starb er mit kaum dreißig Jahren. Cervo zeichnet in seinem Stück ein Portrait, eine Art theatrales Poem, wobei es ihm weniger um die exakte Biographie, als um die Darstellung bestimmter Aspekte des Künstlers geht. Die Bespiegelung des Lebenslaufes dient ihm dazu, die Auseinandersetzung des Einzelnen mit der Gesellschaft zu beleuchten. Und – hier vermischen sich Narration und Dramatik – es ist gleichzeitig ein Poem über den Tod mit Mitteln des Theaters.

Vor einigen Jahren sah Cervo im Hall Room des Corpus Christi Colleges in Cambridge ein Portait von Marlowe mit gekreuzten Händen. Darunter der lateinische Spruch: „Was mich ernährt, bringt mich um.“ Schon damals dachte er: „Ein Mensch mit gekreuzten Händen ist einer, der ein Geheimnis bewahrt.“ Ein rätselhafter Mensch, der von der Liebe zur Kunst beseelt ist und gleichzeitig von ihr im Leben gequält wird. Seine Gedanken goss Cervo in eine feine Sprache, die den elisabethanischen Stil parodiert. „Ich will Fragen stellen und Reaktionen provozieren und dem Zuschauer nicht eine bestimmte Lösung für ein Problem aufzwingen“, sagt Cervo über seine Arbeit. In Il mio globo distratto finden sich neben Marlowe zahlreiche Charaktere der damaligen Zeit, wie natürlich Shakespeare. Für Cervo ist Marlowe so etwas wie ein Vorkämpfer für Freiheit und freie Lebensentfaltung. Einer, der gegen die Zwänge des Renaissance-Staates aufbegehrte und offen homosexuell lebte.

Am 15. Dezember folgt eine Lesenacht mit dem Titel Lo spettacolo deve andare avanti...(The Show must go on) in der zeitgenössische Theaterstücke aus Italien vorgestellt werden, darunter Fausto Paravidino, Alberto Bassetti, Francesco Silvestri oder Manlio Santanelli. Auch bei ihnen hören wir von Einzelnen, die sich an der Gruppe und den Zwängen reiben. Gian Maria Cervo arbeitet bereits an einem neuen Text mit dem Arbeitstitel The cruelest man. Diesmal geht es um einen Ratgeber Draculas, der nach London geht, in Bloomsbury lebt und Virginia Woolf trifft. Es scheint, als hätte Cervo eine Vorliebe für Portraits. „Mein neues Stück ist ganz anders, viel komischer, aber auch hier geht es mir um Irrationalität und Unmoral in der Geschichte“, so der Neapolitaner, der als Vorbilder Kushner oder Fosse nennt. Wer Cervo gegenübersitzt, erlebt ihn als ausgeglichenen Menschen. Da fällt es manchmal schwer, ihm die Beschäftigung mit einer zerrissenen Künstlerfigur wie Marlowe zuzutrauen, aber – was wissen wir schon von Italien.

Lesung: Gian Maria Cervo: Del mio Globo distratto: Freitag, 20 Uhr, Neues Cinema

Lesenacht Lo spettacolo deve andara avanti – Zeitgenössische Stücke aus Italien: Sonnabend, 20 Uhr, Neues Cinema