robin alexander über Schicksal
: Auch Verweigerung ist eine Haltung

Einst bewies das „Planspiel Börse“, wie falsch Investieren sein kann. Eine Erkenntnis, die bis heute ihr Geld wert ist

Es war wie Verführung im Kloster. Wie von der Polizei zum Verbrechen ermuntert zu werden. Wie das erste Heroin von der Suchtberatung bekommen. Ausgerechnet die Autoritäten, die mich zum Staatsbürger und Sparer formen sollten, fixten mich an. Mein Lehrer für Sozialwissenschaften und die Stadtsparkasse wollten mich charakterlich deformieren: zum gierigen Spekulanten.

„Planspiel Börse“ nannte sich das Ganze und ging so: Je zwei Schüler verfügen über fiktive 50.000 Mark, für die sie ein fiktives Depot voller fiktiver Aktien und Optionen erwerben, wieder losschlagen und günstig rückkaufen. Die Gruppe gewinnt, die nach zwei Monaten Spieldauer den größten fiktiven Gewinn erzielt hat. Die besten Nachwuchs-Broker aus ganz Nordrhein-Westfalen sollten auf Sparkassenkosten gar nach New York City fliegen – ganz real.

Dorthin haben es mein Planspielkamerad und ich damals leider nicht geschafft, aber wir waren immerhin das beste Team des Sowi-Kurses. Unsere erfolgreiche Anlagestrategie war so schlüssig, dass sie sich auf einen einfachen Nenner bringen ließ: Ohne uns. Wir krähten pubertär: Niemand zwingt uns, Ausbeutung zu simulieren! „Meint ihr, dass die schwäbischen Facharbeiter ausgebeutet werden, wenn ihr Daimler-Aktien kauft?“, fragte der Kursleiter ironisch. Aber in einem bestimmten Alter ist man für Argumente nur beschränkt zugänglich. Vor allem, wenn die Argumente vom Sowi-Lehrer kommen.

Wir investierten gar nicht. Keine verdammte fiktive Mark. Konsumausgaben oder Spenden an kurdische Befreiungsorganisationen waren im Planspiel Börse der Sparkasse nicht vorgesehen. Deshalb behielten wir unsere 50.000 einfach. Und gewannen. Planspiel Börse dauert zwei Monate. Acht Börsenwochen, nach denen unsere Mitschüler gelernt hatten, was der Begriff Baisse meint: Alles, aber wirklich alles war gefallen. Ein Zwischentief an der Börse. Jede Gruppe hatte verloren. Nur wir Spielverderber nicht, wir saßen noch auf den 50.000.

Diese Erfahrung schützte für ein paar Jahre mich und ein kleines Vermögen, das in Form einer Erbschaft auf mich gekommen war. Ein bescheidenes Sümmchen nur, deutlich weniger als 50.000, aber kein Spielgeld. Zu wenig, um große Sprünge zu machen, genug aber für schlaflose Nächte, wachgehalten von quälenden Gedanken, die alle mit den gleichen drei Worten begannen: „Hätte ich doch . . .“

Erinnern wir uns: Die zweite Hälfte der Neunzigerjahre war für „konservative Sparer“ keine leichte Zeit. Offensive Dauerpropaganda wie der Fernsehsender N-TV und die Werbespots auf den anderen Kanälen zermürbte langsam, aber nachhaltig. Schlimm wurde es erst, als man in Deutschland keinen Kaugummi mehr kaufen konnte, ohne mit Investment-Tipps behelligt zu werden. „Die Bude zahle nicht ich ab, sondern mein Portfolio“, erklärte der Kioskbetreiber meines Vertrauens ungefragt. Er habe in die IT-Branche der nördlichen Pazifikregion investiert. Ein ehemaliger Offiziersanwärter der NVA und gescheiterter Buchhändler berichtete ungefragt, Halbleiterwerte hätten ihn aus allen Schwierigkeiten erlöst. So, wie es heute jede Menge Experten für den internationalen Terrorismus gibt, war damals jeder Börsenexperte. Smalltalk jenseits des Parkettgespräches – so etwas gab es überhaupt nicht mehr.

Irgendwann hatten sie auch mich so weit. Vielleicht hatte mein Sowi-Lehrer ja doch Recht! Ich rief Ralph an, Investmentbanker und Saufkumpan, guter Bekannter und schlechter Mensch, der Armut verachtet und Großzügigkeit schätzt. Es war März 2001, ich plante eine längere Reise und wollte vorher noch investieren. Endlich sollte auch für mich Geld arbeiten. „Mach dein Investment ruhig danach. Kein Stress. Der Boom hält noch Jahre“, vertröste mich Ralph. Ich hielt mich dran.

In der börsenfreien Ferne vergaß ich Dax und Dow. Doch schon im Flugzeug zurück spürte ich die Veränderung. Man sprach noch immer von Aktien. Aber in die vertraut klingenden Gespräche der Fremden hatten sich neue Begriffe gemischt. „Überhitzung“, hörte ich, und „Spekulationsblase“. Die Sowi-Simulation war Wirklichkeit geworden. Jetzt verlor wirklich jeder, und zwar in echt.

Das Börsengerede hat sich ja mittlerweile gegeben, und über Verluste spricht man nicht so gerne. Mein Mann vom Kiosk hat Sorgenfalten, der mutige Buchhändler sogar den Gerichtsvollzieher zu Hause. Und Ralph? Holt mir persönlich ein Bier vom Tresen, als ich ihn neulich in Frankfurt besuche. „Weißt du“, doziert er, „der richtige Zeitpunkt zum Aussteigen ist, wenn die Harmlosen und die Deppen einsteigen. Als du damals angerufen hast, habe ich meine Gewinne mitgenommen.“

Fragen zum Schicksal?kolumne@taz.de