Leisetreten? Auftrumpfen?

Das Dilemma der geplanten Afghanistan-Schutztruppe: Geschützt werden soll die designierte Übergangsregierung – und die will nicht. Der Streit schiebt der UNO mehr Macht zu, als sie verträgt

von BERNARD IMHASLY

Der erste Auftritt des UNO-Beauftragten Lakhdar Brahimi in Kabul am Montag glich nicht dem Empfang, der ihn bei seinen früheren Besuchen in Afghanistan erwartete. Bis vor zwei Jahren, als er seinen letzten Job als UNO-Vermittler für Afghanistan frustriert an den Nagel hängte, musste Brahimi in Büros, Zelten und militärischen Hauptquartieren antichambrieren, wenn er die afghanischen Streitparteien mit seiner Pendeldiplomatie einander nahezubringen versuchte. Diesmal erschien er schon fast wie ein Prokonsul, mit Eskorte und Mercedes-Kolonne, und der designierte Außenminister Abdullah Abdullah erwartete ihn am Fuß der Treppe statt im Büro.

Beobachter zweifeln nicht, dass Brahimi in den nächsten Wochen das Machtzentrum im zerstörten Land darstellen wird. Er wird über die Zuteilung des massiven Geldflusses aus dem Ausland mitentscheiden, der den Wiederaufbau des Landes anstoßen soll. Und er wird neben dem militärischen Kommandanten die zivile Autorität darstellen, die den Einsatz der geplanten multinationalen Schutztruppe mitüberwacht.

Die ersten Gespräche Brahimis dienten denn auch der Festlegung der Umrisse eines Mandats für diese Truppe. Dabei zeigt sich immer deutlicher, dass die designierte Übergangsregierung Afghanistans sehr restriktive Vorstellungen darüber hat. Man wusste, dass der jetzige Präsident Burhanuddin Rabbani am liebsten gar keine, und wenn, „höchstens 200“ ausländische Soldaten in Afghanistan stationiert sehen wollte. Rabbani steht aber vor seinem Rücktritt, und auf der Bonner Konferenz akzeptierten die Parteien das Prinzip einer Schutzmacht, die weit über eine symbolische VIP-Leibwache hinausging. Sie einigten sich auch auf eine Demilitarisierung Kabuls, um den Eindruck zu vermeiden, dass in der Hauptstadt eine Besatzungsmacht das Szepter führt, wie sie es jetzt noch tut. Im Vorfeld der Gespräche mit Brahimi ließ der designierte Verteidigungsminister Kassim Fahim nun verlauten, die Nordallianz werde ihre Soldaten nicht aus Kabul abziehen. Die internationale Truppe müsse sich auf den Schutz von Gebäuden und internationalen Institutionen beschränken. Patrouillendienste seien nicht vorgesehen, denn diese könnten durch afghanische Einheiten durchgeführt werden, die aus allen Parteien zusammengesetzt sind. Fahims Einschätzung der gewünschten Stärke der Schutztruppe: Nicht mehr als 1.000 Mann.

Daraufhin beeilte sich Brahimis Sprecher Ahmad Fawzi mit der Versicherung, die „Grünhelme“ kämen als Freund. Die divergierenden Vorstellungen zeigen aber, dass zehn Tage vor Einsatz der Truppe – der 22. Dezember ist der Tag der Regierungseinsetzung und gilt als letzter sinnvoller Termin – noch unterschiedliche Auffassungen über ihre Aufgabe bestehen.

Die UNO war bereits in Bonn darauf bedacht, das Mandat sehr allgemein zu formulieren und keine Zahlen festzulegen. Mandat und Zahlenstärke würden, so die stillschweigende Übereinkunft, zunächst restriktiv formuliert und zu einem späteren Zeitpunkt ausgeweitet werden, sobald sich die konstruktive Wir kung der Soldaten herumgesprochen hat. Doch inzwischen reden die Kandidaten für Truppenkontingente bereits über weit größere Einheiten, Großbritannien sogar von 10.000 Soldaten. Gleichzeitig haben Entwicklungsorganisationen gefordert, dass diese Truppen auch Schutz- und Logistikdienste bei der Verteilung von Hilfsgütern übernehmen sollten – was einen landesweiten Aufmarsch bedeuten würde. Und der Afghanistan-Bevollmächtigte des UN-Weltentwicklungsprogramms UNDP Mark Malloch-Brown sprach davon, dass für die Sicherheit der Hilfswerke eine Entwaffnung von Milizen unabdingbar sei – eine Rolle, die nur eine internationale Schutztruppe übernehmen könnte.

Wenn es nach den Vorstellungen der neuen afghanischen Regierung geht, sollen die zahlreichen Milizen aber nicht entwaffnet, sondern in die neue afghanische Armee integriert werden. Diese All-Parteien-Armee soll von Anfang den Schutz des Landes übernehmen – eine Vorstellung, die in der afghanischen Zivilbevölkerung mit Bangen aufgenommen werden dürfte.

Doch die afghanischen Ängste vor fremden Truppen sind real, umso mehr als ausgerechnet die Briten das Oberkommando übernehmen sollen. Auf Großbritannien lastet nicht nur die Hypothek imperialer Einmis chung in Afghanistans Geschicke. Die kürzliche Übernahme der Luftwaffenbasis von Bagram durch eine Hundertschaft britischer Spezialeinheiten ohne Absprache mit der Nordallianz war ein Willkürakt, der an Kanonenbootpolitik erinnerte.

Erschwerend kommt hinzu, dass Hamid Karzai, der designierte Regierungschef, noch immer in Kandahar sitzt, wo er versucht, die wacklige Provinz-Schura rivalisierender Kommandanten zu stabilisieren. Er wird nun erst kurz vor seiner Amtsübernahme am 22. Dezember in Kabul erwartet. In seiner Funktion als temporäres Staatsoberhaupt mit großer Auslandserfahrung könnte er zwischen afghanischen Sensibilitäten und internationalen Sicherheitsstandards vermitteln. Und als Südpaschtune wird von ihm erwartet, dass er ein Gegengewicht zu den auftrumpfenden Tadschiken der Nordallianz bilden wird.