ulrike herrmann über Non-Profit
: Normiert, aber nicht Norm

Meine Beine sind schön und können stundenlang joggen. Aber für die meisten Jeans sind sie zu kurz

Wenn ich schlechte Laune habe und nicht weiß, warum, dann gehe ich in einen Jeansladen und nerve die Verkäufer. Hinterher bin ich zwar noch deprimierter, aber wenigstens nicht mehr grundlos. Ich fange harmlos an: „Haben Sie Hosen in der Länge 28?“ Es kommt, wie es immer kommt: „Natürlich, bei den Karotten.“ Und ich weiß auch schon, wohin der professionelle Zeigefinger zeigen wird: auf das Regal ganz oben, ganz hinten. Unerreichbar für alle, die Hosenlänge 28 haben. Es ist also zwingend zu fragen: „Könnten Sie mir einen Hocker bringen?“ Während die Verkäuferin grummelt und im Lagerraum verschwindet, bereite ich mich auf meine nächste Anmerkung vor, die auch immer die gleiche ist: „Warum sortieren Sie Ihre Hosen nicht um – die langen nach oben für die Großen, die kurzen nach unten für die Kleinen? Dann kommt jeder ran.“ Spätestens jetzt verfliegt das professionelle Lächeln: „Das ist überall so.“ Was stimmt. Dieser Punkt geht stets an die Verkäufer. Irgendwo muss ein Monopol-Jeansladen-Einrichter sitzen, der es schick findet, dass kurzbeinige Kunden die Hosenregale hochkrabbeln müssen und an ihnen kleben wie ein Käfer am Baumstamm.

Pause. Obwohl ich weiß, dass es sinnlos sein wird, ziehe ich mich in eine Kabine zurück, um die Karotte anzuprobieren. Wie erwartet kann ich die Verkäuferin danach schon wieder mit einer Frage belästigen: „Finden Sie nicht, dass die Hose beult? Wie ein Sack.“ Nein, das findet das junge Mädchen mit dem bauchfreien Kurzpulli gar nicht. „Sie steht Ihnen.“ Würde ich auch sagen, wenn ich Verkäuferin wäre und mich als nervige Kundin hätte.

Sicherheitshalber stelle ich also auf stur, Karotte kommt nicht in Frage. „Wenigstens eine einzige gerade Hose in 28 müssen Sie doch haben?!“ Aber nein, alles, was attraktiv ist, ist mindestens 30 lang. Der bauchfreie Kurzpulli versucht, konstruktiv zu bleiben: „Sie können die Hose gern abschneiden lassen.“ – „Dann sieht sie aber abgeschnitten aus!“ Dieses tautologische Argument ist immer unschlagbar. Auch diesmal. Langsam gräbt sich Ratlosigkeit in das Gesicht der jungen Verkäuferin. Der gepiercte Bauchnabel wippt vor Empörung, als sie hervorstößt: „Dafür kann ich auch nichts!“

Wie zutreffend. Sie kann tatsächlich nichts dafür, dass ich 162 Zentimeter groß bin. Wenn überhaupt, dann sind meine Eltern verantwortlich. Mutter 162, Vater 168 – statistisch wahrscheinlich hätte ich sogar nur auf 159 Zentimeter anwachsen dürfen. (Wer seine Bekannten und Verwandten auch mal vermessen will: www.tfh-berlin.de/~akmi/tfh/ss00/kinder/docu/normwachs/schaetzung.html) Aber meine drei Zusatzzentimeter nutzen im Jeansladen gar nichts. Und es nutzt auch nichts, dass ich meine Beine schön finde, dass sie auf hohe Berge steigen und stundenlang joggen können. Sie bleiben zu kurz für die Länge 30, die aus den Hosenregalen quillt. „Beschweren Sie sich doch beim Hersteller“, mault der gepiercte Bauch.

Diese Idee kenne ich schon. Schließlich habe ich gerade erst mit dem Chefeinkäufer von Tchibo telefoniert. Denn in den Filialen gibt es Damen-Skihosen, sensationell günstig – aber nicht in S. Nur in M, L und XL. Meine telefonische Rüge hat Tchibo allerdings nicht aus der Ruhe gebracht. Wozu gibt es denn „die Gesetze des Marktes“, wenn nicht, um Querulanten zu belehren: „Wie Sie vielleicht wissen, arbeiten Handelsunternehmen gewinnorientiert.“ Freundliche Pause. „Tut uns Leid, dass wir nicht für Sie da sein können.“ Ich lohne nicht, bin Minderheit, so die finale Botschaft.

Das stellt die Deutsche Industrienorm DIN 33402 über die „Körpermaße des Menschen“ übrigens auch fest, die das biologisch Faktische mit normativer Kraft versieht. Nur 20 Prozent aller deutschen Frauen haben noch kürzere Beine als ich, entnehme ich den Tabellen. So bin ich zwar normiert – aber nicht Norm, bin das offiziell Unnormale am Normalen.

Aber deswegen muss man ja nicht gleich klein beigeben im Jeansladen. Der freie Bauchnabel wendet sein allerletztes Mittel an, um mich endlich loszuwerden: „Versuchen Sie’s doch nebenan!“

Nebenan ist die Kinderabteilung von H & M. Ich würde es dem gepiercten Bauch zwar nie gestehen, aber sie hatte Recht. Angenommen, ich wäre 11 bis 12 Jahre alt, dann hätte ich die Idealfigur. Jede Hose passt mir – wenn auch nicht unbedingt zu mir. Für einen Schlag so weit, wie der Schuh lang ist, fühle ich mich doch zu wenig Kind. Aber die erste unauffällige Hose, 10 Mark!, kaufe ich gleich zweimal.

Die Kassierin scheint mich wissend anzublicken, zu wissend.

„Zwillinge!“, beeile ich mich.

Sie nickt beeindruckt, ist überhaupt die allererste Verkäuferin, die mich je beeindruckt angesehen hat.

P. S. Der zuständige taz-Fotoredakteur lässt ausrichten, dass sehr lange Beine auch in jedem Jeansladen verzweifeln.

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