Europa als soziales Projekt

Globalisierungskritiker entdecken die Europäische Union als neues Thema und loben dabei selbst Bundeskanzler Gerhard Schröder

von HANNES KOCH
und YASSIN MUSHARBASH

Fast ein halbes Jahr lang haben die Globalisierungskritiker mobilisiert, und nun ist es so weit: Die Proteste, die den EU-Gipfel im belgischen Laeken begleiten sollen, haben begonnen. In Aachen finden seit vorgestern „Grenzaktionstage“ statt, die sich gegen Ausreiseverbote für Globalisierungskritiker und die Residenzpflicht für Flüchtlinge gleichermaßen richten. Knapp 150 Aktivisten aus ganz Deutschland diskutieren in Aachen darüber, wie sie die EU gerne hätten. Weniger repressiv, weniger menschenfern, weniger kapitalistisch soll sie sein. Für heute hat das Bündnis „Open Up“ einen kollektiven Grenzübertritt über die eigentlich grüne Grenze nach Belgien organisiert. Doch der Bundesgrenzschutz hat bereits verstärkte Kontrollen angekündigt.

Nach den Terroranschläge in den USA am 11. September war ein Abflauen der globalisierungskritischen Bewegung vorausgesagt worden. Doch nun wendet sie sich neuen Themen zu. Jetzt ist Europa dran. In Organisationen wie Attac, die sich bisher vor allem mit der Weltwirtschaft beschäftigt haben, läuft mittlerweile eine Diskussion unter dem Motto „Wie halte ich es mit der EU?“.

Bei der Linken herrschte bislang eine distanzierte Ablehnung dessen, was in den europäischen Institutionen passierte. Nun steht der Euro vor der Tür. Das trägt dazu bei, dass sich die Haltung allmählich verändert. „Die globalisierungskritische Bewegung muss sich der Europa-Thematik dringend zuwenden“, sagt etwa Peter Wahl vom Entwicklungsverband Weed. Ihn hat erst kürzlich eine Rede ins Grübeln gebracht, in der Bundeskanzler Gerhard Schröder Europa als soziales Projekt beschrieb, das dem ungeregelten Markt Paroli bieten solle. „Da ist Musik drin“, meint Wahl.

Nicht nur auf der Internetseite von Attac Deutschland findet sich ein Katalog sozialer Grundrechte, der ansatzweise beschreibt, wie ein Europa aussehen sollte, das sich die Globalisierungskritiker vorstellen. Die Grundlage für eine „Charta eines demokratischen, sozialen, ökologischen und solidarischen Europa“ soll bei den alternativen Veranstaltungen und Kongressen während des Laekener EU-Gipfels am Wochenende diskutiert werden. Der Katalog bezieht sich stark auf die Tradition der linken Gewerkschaften und der Euromärsche, die in den vergangenen Jahren gegen Arbeitslosigkeit und Deregulierung der Beschäftigung protestiert haben. Mit ihrem eigenen Grundrechtekatalog macht die globalisierungskritische Bewegung einen Schritt von der Negation der bestehenden Verhältnisse zum Entwurf eines Zukunftsbildes.

Die europäische Linke hat sich den passenden Zeitpunkt ausgesucht: In Laeken wollen die Regierungen einen Konvent ins Leben rufen, dessen Diskussionen in eine europäische Verfassung münden sollen. Ein Grundbaustein dafür liegt seit Ende vergangenen Jahres auf dem Tisch: die Charta der Grundrechte. Über diese freilich gehen die Vorstellungen der Linken weit hinaus.

Während bei den demokratischen Bürgerrechten mehr oder weniger Einigkeit herrscht, definiert die Charta von unten den Bereich der sozialen Menschenrechte. So fordern Attac & Co. zum Beispiel „das Recht auf Altersruhestand und eine angemessene Rente“. In der offiziellen Charta heißt es dagegen nebulös: „Die Union achtet das Recht auf Zugang zu Leistungen sozialer Sicherheit, die [. . .] im Alter Schutz gewährleisten.“ Einige weitere Punkte im Gegenentwurf sind das „Recht auf kostenlose Bildung und Unterrichtung auf hohem Niveau, auf Gesundheitsversorgung und Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen“.

Nicht nur, dass diese Forderungen – wenn überhaupt – in unverbindlichen Formulierungen in der offiziellen Grundrechtecharta auftauchen. Die linken Gewerkschafter und Globalisierungskritiker wollen den Umfang der Grundrechte erweitern und sagen gleichzeitig, wie diese Rechte garantiert werden sollen. In jedem Fall, so heißt es in der „Erklärung für ein anderes Europa in einer anderen Welt“, ist dafür das Kollektiv, die Gesellschaft verantwortlich. Die Rentenversicherung soll öffentlich organisiert bleiben, ebenso die Gesundheitsversorgung und die Bildung. Eine klare Absage also an die Politik der Privatisierung, wie sie nach Ansicht der Bewegung die EU-Kommission betreibt.

Ein Horror ist für die Globalisierungskritiker das, was gerade in Argentinien passiert. Dort hatte die Regierung vor Jahren die Rentenversicherung privatisiert. In der aktuellen Finanzkrise räubert der Staat nun die privaten Rentenfonds aus, weil er sich anders nicht das Geld zu beschaffen weiß, um die Auslandsschulden zu bezahlen. In einem öffentlichen Rentensystem wäre so etwas zumindest schwieriger: Die Prämien der Versicherten liegen nicht in Fonds quasi auf der Bank und warten auf die spätere Auszahlung, sondern werden im Rahmen des Generationenvertrags direkt an die gegenwärtigen Rentenempfänger überwiesen.

In Laeken proben die Globalisierungskritiker im Übrigen schon mal für Größeres. Beim Weltsozialgipfel in der brasilianischen Stadt Porto Alegre steht Ende Januar 2002 ein ähnlicher Katalog der sozialen und demokratischen Grundrechte auf der Agenda – dann aber nicht nur für Europa, sondern für die Welt.

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