Sport der grauen Schläfen

Immer wenn der Berliner Sulky-Sport in der Krise ist, wird über die Karlshorster Trabrennbahn spekuliert, obwohl die Anlage in Mariendorf teurer ist. Die Ostbahn ist diesen Winter geschlossen

von ANDREAS RÜTTENAUER

Trabrennbahn Mariendorf. Es ist Sonntag, ein ganz gewöhnlicher Renntag. Nur ein einziges Kassenhäuschen hat geöffnet, doch auch hier hält sich der Andrang eher in Grenzen. Bei Temperaturen um den Gefrierpunkt versammeln sich die Freunde des Trabrennsports im Tribünenhaus.

Drinnen herrscht eine eigentümlich muffige Atmosphäre. Die Luft ist geschwängert von säuerlich riechendem Pfeifenrauch. Das gesamte Interieur wirkt angestaubt und vergilbt. Weniger als die Hälfte der Wettschalter ist geöffnet. Davor unterhalten sich in die Jahre gekommene Rennexperten: graue Schläfen im blauen Dunst. Er hat sicher schon bessere Tage gesehen, der Trabrennsport in Berlin.

Während die ersten Wettscheine ausgefüllt werden, bereitet sich Trabertrainer Thomas Heinzig auf die Rennen vor. Mit seinen 35 Jahren ist er einer der jüngsten Profis in der Sulky-Szene. Als 16-Jähriger – „noch zu tiefsten DDR-Zeiten“ – hat er sich auf der Trabrennbahn Karlshorst zum „Facharbeiter für Pferdezucht“ ausbilden lassen. In Karlshorst hat er die ersten Gehversuche als Trainer und Fahrer gemacht.

Karlshorst – immer wenn von der Krise in Berliner Trabrennsport die Rede ist, geht es um die Zukunft der angeblich maroden Bahn im Ostteil der Stadt. So auch heute. Der Berliner Trabrenn-Verein (BTV), der beide Bahnen betreibt, hat beschlossen, in Karlshorst keine Winterrennen mehr zu veranstalten. Dort gebe es keine Tribünenhalle wie in Mariendorf, meint Dimitrios Vergos, der Geschäftsführer des BTV. Die wahren Gründe liegen woanders.

Trainer Heinzig, der von der Streichung der Renntage direkt betroffen ist, weiß um die Probleme. Vor zehn Jahren hat er sich selbstständig gemacht, trainiert in Mietgendorf bei Ludwigsfelde 20 Pferde für verschiedene Besitzer, die etwa 1.000 Mark pro Pferd monatlich für Verpflegung, Unterbringung und Training an Heinzig überweisen. „Die Krise“ sei schuld daran, dass sich kaum noch jemand auf das Risiko Pferdesport einlasse. Die stetig sinkenden Rennpreise täten ein Übriges.

Die Siegprämien an gewöhnlichen Renntagen liegen meist im Bereich um 1.500 Mark. 90 Prozent davon gehen an die Besitzer der Siegpferde, 10 Prozent an den Fahrer, der in den meisten Fällen auch Trainer der Pferde ist. „Gäbe es diese Fahrerprämie nicht, dann bliebe wirklich beinahe gar nichts mehr übrig.“ Zu den Fixkosten für das Futter, die Pacht der Ställe und Koppeln kommen noch die Gehälter für zwei Pferdepfleger, die Heinzig beschäftigt. Sie sind Profisportler, die Trabertrainer; einen Fußballer mit solchen Bezügen würde man jedoch Amateur nennen.

Kein Wunder, dass Heinzig als Mittdreißiger immer noch so etwas wie der Berliner Traber-Benjamin ist. Es kommt zu wenig nach. Kaum jemand will sich mehr ein Trabrennpferd zulegen, schon lange ist in Berlin keine Trainerlizenz mehr beantragt worden, und auch vor den Totalisatoren an den Wettschalter sitzen kaum junge Menschen. Auf die Frage, ob die Bahn in Karlshorst deshalb überhaupt eine Zukunft habe, meint BTV-Geschäftsführer Vergos: „Die Frage ist doch, ob der Trabrennsport in Deutschland überhaupt Zukunft hat.“

Für den Standort Mariendorf spricht wohl in erster Linie die Tatsache, dass dort das Deutsche Traberderby, das bedeutendste Rennen im Lande, stattfindet. Ginge es lediglich um die Rentabilität der Bahnen an gewöhnlichen Renntagen, müsste der BTV eigentlich die Westbahn schließen. In Karlshorst nämlich trägt die Treuhand Liegenschaftsgesellschaft (TLG) als Eigentümerin der Anlage sämtliche Infrastrukturkosten. Pro Renntag muss der Veranstalter lediglich eine Pauschale von 2.500 Mark zahlen, einen Bruchteil dessen, was in Mariendorf fällig wird. Der Vertrag mit der TLG läuft noch bis Ende 2003, bis dahin werde man in Karlshorst noch Rennen veranstalten.

Größeren Zuschauerzuspruch für Mariendorf erwartet Vergos allerdings nicht, wenn es nur noch eine Bahn in Berlin gibt „Die meisten Zuschauer kommen doch aus der unmittelbaren Nachbarschaft der Bahnen“, jammert er und beklagt die sinkenden Wettumsätze.

„Eigentlich denke ich schon, dass eine Stadt wie Berlin zwei Bahnen vertragen könnte“, sagt Thomas Heinzig. Er schwärmt von Frankreich und Schweden, wo Trabrennen einen ganz anderen Stellenwert hätten. Da könne man nicht von einer sterbenden Disziplin sprechen: „Bei uns kann man sich ja auch nicht vorstellen, dass es irgendwann keinen Fußballsport mehr gibt.“ Es müsse mehr Werbung gemacht werden, man brauche Stars, Pferde, die allen ein Begriff seien. „Da muss einfach viel mehr gemacht werden“, meint er und setzt trotzig hinzu: „Und das geht auch.“

Im dritten Stock der Mariendorfer Tribünenhalle sitzen vornehme Wetter im Restaurant. Plastikpalmen, die aussehen wie natürliche nach einem harten Winter, künstlicher Efeu, der nur da nicht von Staub bedeckt ist, wo ihn die Gäste mit ihren Mänteln abgestreift haben, ein Schaukasten, in dem ein Plakat die Silvesterfeier 2000 ankündigt, von gepflegter Atmosphäre keine Spur. Kurz vor 14.03 Uhr werden die letzten Wetten für den „Preis vom Spessart“ angenommen. Einige Herren springen auf und geben noch schnell ihren Tipp ab. Wer 10 Mark auf „Rosa von Lima“ gesetzt hat, wird 26 Mark gewinnen. Der Heinzig-Traber ist im zweiten Rennen des Tages nicht zu schlagen. Einige Besucher zerreißen wütend ihre Wettscheine. Ein Stammgast kommentiert den schleichenden Niedergang des Trabrennsports in Berlin auf seine Weise: „Nicht einmal einen Weihnachtsbaum haben sie aufgestellt.“