Shakespeare praktisch lernen

„Produktives Lernen“ heißt ein Modellversuch, mit dem an zwölf Berliner Schulen schwierige Teenager praktische Alltagsprobleme lösen und so wieder für das Lernen begeistert werden sollen

von SABINE AM ORDE

Sanya mag Shakespeare. Aber erst seit ein paar Wochen. Seit ihrem Praktikum im Renaissance-Theater. Jetzt kann die 18-Jährige mit dem dunkelbraunen langen Haar und dem perfekten Lidstrich sogar „die Szene mit der Nachtigall“ aus „Romeo und Julia“ auswendig. „Die hab ich den anderen vorgespielt – in verteilten Rollen“, sagt sie stolz. „Auf der einen Seite war ich Romeo, wenn ich auf der anderen saß, Julia.“

Was sich wie eine kleine Spielerei anhört, war für Sanya weit mehr. „Zum einen hat sie Shakespeare kennengelernt“, sagt Rainer Finke, Sanyas Lehrer. „Und sie hat gelernt, dass Literatur aufgearbeitet werden muss, um im Theater effektvoll zu sein.“ Finke setzt auf andere Lernerfolge als herkömmliche Hauptschullehrer. Denn hier an der Waldenburg-Oberschule in Schöneberg wird nach dem Konzept „Produktives Lernen“ gearbeitet. Die Idee: Jugendliche, an denen die Schulen gescheitert sind, sollen über eigene Erfahrungen in Betrieben, Verwaltung oder sozialen Einrichtungen wieder für das Lernen begeistert werden.

Dennis zum Beispiel hat bei einem Fliesenleger gearbeitet. Sein Mentor trug ihm dort auf, die Kacheln für ein bestimmtes Badezimmer aus dem Lager zu holen. Wie viele Kacheln er dafür braucht, wusste Dennis nicht. Gemeinsam mit dem Fliesenleger, später mit seiner Lehrerin hat er das schließlich ausgerechnet. „Der Junge wollte die Frage plötzlich wirklich lösen“, sagt Ingrid Böhm, eine der beiden LeiterInnen des Projekts.

„Produktives Lernen“ wird seit fünf Jahren an insgesamt 12 Haupt- und Sonderschulen erprobt, die Waldenburg-Hauptschule in der Nähe des Innsbrucker Platzes ist eine davon. Hier sind in diesem Schuljahr 33 Jugendliche und drei Pädagogen dabei. In einer ehemaligen Kita im Souterrain, in der die Wände sonnengelb angemalt sind, sitzen 12 der Jugendlichen an Tischen im Kreis und stellen die Ergebnisse ihrer „Praxisplätze“ vor. Drei Tage der Woche verbringen die Schüler an diesen Plätzen, die vom Handyshop, über Kita, Krankenhaus und Kfz-Werkstatt bis zum Theater reichen. Zwei Tage sind die Jugendlichen in der Schule. Da bekommen sie Mathematik-, Deutsch- und Englischunterricht, dazu gibt es Gruppengespräche und Zeit für Einzelrecherche. „Aber auch dabei gilt der klassische Lehrplan nicht“, sagt Gloria Brand, Finkes Kollegin. Hier würden die Fragen aufgegriffen, die an den Praxisplätzen entstanden sind. „Das war auch für uns Lehrer eine große Umstellung“, sagt die 52-Jährige, die früher an einer Geamtschule unterrichtete.

Hauptakteure beim „Produktiven Lernen“ sollen die SchülerInnen sein, gleich von Anfang an: Die sechs Praxisplätze, an denen die Jugendlichen im 9. und 10. Schuljahr arbeiten, müssen sie sich selbst suchen. Mit Rollenspielen, die von Videokameras aufgenommen werden, bereiten sie sich auf die Vorstellungsgespräche vor. In dem Projekt „Produktives Lernen“ können die SchülerInnen sowohl den Haupt- als auch den Realschulabschluss machen, Letzteren schaffen aber wenige.

Viele der 14 Jugendlichen in Brands Gruppe haben früher die Schule häufig geschwänzt. Heute sind 12 der 14 da. „Wir schaffen es, 70 Prozent zu bekehren“, sagt Brand. Sanya ist eine dieser Bekehrten. In der Realschule hat sie oft gefehlt. „Ich musste auf meine kleinen Geschwister aufpassen“, sagt sie. Und: „Ich hab schlechte Noten gekriegt, aber sonst hat das überhaupt nicht interessiert.“ Schließlich stand die Wiederholung der 8. Klasse an. „Ich hatte überhaupt keine Lust auf Schule mehr, am liebsten hätte ich ganz aufgehört.“ Statt aufzuhören, wechselte sie an die Waldenburg-Schule. Das gilt auch für ihre Freundin Jaqueline. „An meiner alten Schule gab es Druck. Wenn wir etwas nicht verstanden haben, gab es schlechte Noten, wenn wir zu spät gekommen sind, Tadel. Aber wirklich interessiert haben die sich doch nicht für uns.“ Das, da sind sich die beiden jungen Frauen einig, sei hier ganz anders. „Hier kann man die Lehrer auch fragen, wenn man persönliche Probleme hat“, sagt Jaqueline.

Und davon haben die beiden Freundinnen mehr als genug. „Die Jugendlichen hier kommen zum Teil aus schwierigen Familienverhältnissen und haben in der Schule jede Menge Negativerfahrungen gemacht“, sagt Gloria Brand. Ihr Hauptziel ist es, die Jugendlichen zu stärken. „Wir wollen vorhandene Ressourcen und zugeschüttete Träume freilegen.“