peter unfried über Charts
: „Wie war das Stück, Mrs. Lincoln?“

Requiescat in pacem: Die WamS, Juhnke, Grüne, Decoder, Bierhoff, Kessler – Die 56 erledigten Fälle (RIPs) des Jahres

„Davon mal abgesehen – wie war das Stück, Mrs. Lincoln?“

Der (US-) Rolling Stone über das Problem eines Rückblicks 2001

OUT „Es war ein gutes Jahr.“

Wer wagt es, das zu sagen? Na, Harald Juhnke. Wo? Na, hier. Aah – das kommt vom Plattenspieler rüber. Die Zeiten? Waren, wie er wunderbar differenziert, „zwar hart, aber niemals war’n sie schlecht“. Unbedingt merken! Und immer nach vorn schauen („Berlin kaputt, die Stimmung groß“). Das soll auch gelten für das Jahr, in dem Juhnke (1) als überflüssiger Sinatra-Imitator abgelöst wurde von Robbie Williams. Letztlich ging es heuer in Deutschland ja bereits vor Sie-wissen-wann um die Rettung unserer westlichen Welt und ihrer Werte, im speziellen also um Leo Kirchs (2) Decoder (3 ).

 Darüber hinaus war es u.a. ein Jahr der furchtbaren Retrospektive auf die 80er (4) – (z. B. „Formel 1“ im Nachtprogramm), des furchtbaren Ausblicks auf die „Generation gimme“ (Observer) – furchtbarer dran ist nur, wer keine Kinder hat (5). Junge Menschen und neue soziale Bewegungen? Ja, schon. Andererseits: Immer mehr scheinbar gesunde, junge Menschen schätzen die FAZ. Manche (6) schreiben sogar für sie. Die denken offenbar, das sei egal. Oder Pop (7).

RIP Alte Helden: a.) Schimanski (8) (unlängst, ARD). Hat immer noch seine alte Jacke an. Allerdings jetzt auch seit Jahren dieselbe Alte. Hm. Und die ist natürlich immer sauer. Es liegt an ihm, es liegt an ihr. Was soll diese Scheiße? So ist das Leben. Dafür braucht man keinen Fernseher.

 b.) Der Kommissar (9). Wirkte viele Jahre wunderbar. Doch jetzt der Schock: Es knallt nicht mehr. Der Anblick der leblosen, immer gleich alten Assistenten-Marionetten (10, 11, 12, 13) deprimiert mehr als jener Stefan Raabs (14). Diesmal nicht, weil er an das Leben erinnert. Sondern, weil man plötzlich merkt, wie man stattdessen „Kommissar“ kuckt. Oh, ja. Schuld ist nicht die Larmoyanz, sondern diese Frau, die zu Bruce Willis meinen Satz des Jahres sagte: „Wir sind in einem Alter, wo man nicht mehr sagen kann, wir machen das später. Jetzt ist später.“ Arghhh – das zieht bis in die Prostata (15).

RIP Neue Heldinnen: Sex and The City (16).

 Samantha: „Wenn wir den Männern rund um die Uhr einen blasen (17) würden, könnten wir die Welt beherrschen.“

Charlotte: „Und hätten die Hände frei.“

 Wie, was, hahaha. Die Duchess of York (18) könnte das relativieren: „Ich konnte es nicht glauben, als ich las, dass 82 Prozent der britischen Männer (19) lieber mit einer Ziege schlafen würden als mit mir.“ No comment.

RIP (20): Welt am Sonntag.

 Danke, danke, danke, lieber Frank Schirrmacher (21).

RIP Der Beatle.

 Paul McCartney (22) zog in den Krieg. In dessen friendly fire – ooops –- ja nun leider auch Teile des afghanischen Volks (23) abgeschlachtet wurden. Aber: Von einem Sir Paul (und Mainstream-Rock 2001) kann sich nur betrogen fühlen, wer selbst (24) fahrlässig Jahre verschlafen und sie vorher noch ernst genommen hat. Und damit zur Analogie des Jahres für selbstgerechte und unbelehrbar naive Kriegsgegner-Dummbeutel (25): Das ist praktisch genau wie mit Fischer (26) und seinen Grünen (27).

RIP Die weibliche Brust, wie man sie kannte (28). Früher dachte man leichthin: Was hat die wohl für einen Busen? Heute: Was hat die wohl für einen Wonderbra (29) bzw. um ganz auf der Höhe zu sein: Chirurgen?

RIP: Der Kapitän (30).

 Jedes Jahrzehnt hat einen DFB-Spielführer verstoßen. Die 90er – die einzig lobenswerte Tat von Vogts (31)Lothar Matthäus (32). Und nun war Oliver Bierhoff (33) dran. Mal abgesehen von seinen Formproblemen: Dass man einen intelligentenWeltmann im Land von Bild und Beckenbauer hasst, hat Stil. Deutschen Stil. Wo kommen wir denn da hin? Jetzt gibt der oberste Tor- und Tugendwächter (O. Kahn) dem deutschen Fußball das Gesicht. ( Grrrh!)

RIP Kolumnen (34).

 Was hat dieses Land für Kolumnisten hervorgebracht! Und jetzt? Natürlich kann nicht jeder Chauvinismus, Xenophobie, Infamie und Legasthenie so rasant vermischen wie FJW (35). Aber es fehlt doch an Kreativität, am System. Und: Die guten Plätze in den Teams sind ja auch alle besetzt von teuren Altstars – B. Lebert (36), Stuckrad-Barre (37), A. Sommer. Von Leistungsträgern, die womöglich über ihren Zenit hinaus sind – Korzdörfer (38a), Blieswood (38b), A. Hacke (39), E. Heidenreich (40) – und von Leuten, die genau in ihrem Zenit stehen – Karasek (41), Horakova (42), Unfried (43) – und damit das Dilemma beschreiben. Der Abgang von „Hier klatscht“ Katja Kessler (44, Bild, Branchengewisper: „Mann, ist die Diek-, Mann!“) hat eine riesige Lücke gerissen, die ihre Nachfolgerin (45) kaum schließen kann. Was kann ihr Chef (46) da tun? Nun: Er könnte Kesslers Bild reinfälschen, damit hat er ja Erfahrung.

RIP Thomas Mann (47).

 Zur Feier des – ja, was eigentlich? – gestern auf dem Flohmarkt gekauft: Der Zauberberg. Für vier Deutsche Mark (48). Stand eine Selbstwidmung drin: „Das Zeug werde ich niemals mehr lesen.“ Mache ein ! dahinter. Requiescat in pacem, Hans Castor (49) – oder wie der hieß. So. Et tu quoque, blöde lateinische Dünkel-Einsprengel (50). Weg damit. Bildung (51), wie wir sie kannten? Wer versteht denn heute noch den Witz von Mrs. Lincoln, die als Präsidentengattin ins Theater ging – und . . . na? (kolumne@taz.de). Bleibt die Frage: Gibt es wirklich keine Sicherheit mehr in unseren Leben?

 Doch. Eine. Georg Hackl wird auch 2002 zu Gold rodeln.

IN P. S. 2001 war ja ein Novalis-Jahr. Novalis hat gesagt: „Was du wirklich liebst, das bleibt dir.“