Ärztliche Kunst im Dienst

Altersnachweis: Ausländerbehörde ließ gegen Mediziner ermitteln, die zugunsten von jugendlichen Flüchtlingen entschieden  ■ Von Peter Ahrens

Die Ausländerbehörde brauchte Hilfe: Um das Alter von jungen Flüchtlingen feststellen zu lassen, hatte sie vor drei Jahren 15 Ärzte in der Stadt um ihre Unterstützung gebeten. Sie sollten feststellen, ob die Jugendlichen über oder unter 16 Jahre alt sind. Inzwischen sind fast alle Ärzte von diesem Job abgesprungen – bis auf einen: Klaus Püschel, Leiter des Rechtsmedizinischen Instituts am UKE und zurzeit wegen des tödlichen Brechmitteleinsatzes in aller Munde. Die Ausländerbehörde behauptet, die Ärzte hätten den Job auch deswegen quittiert, weil sie von den Flüchtlingen bedroht worden seien. „Bedroht worden sind wir tatsächlich – aber eher von der Behörde“, sagt Gerhard Wiethold. Weil der Internist aus Behördensicht unliebsam oft entschied, dass der untersuchte Jugendliche noch unter 16 Jahren sei, strengte sie gegen ihn Ermittlungen wegen „Ausstellung von Falschattesten“ an.

Wer als Flüchtling älter als 16 ist, gilt als erwachsen, darf nicht zur Schule, muss auf den überfüllten Flüchtlingsschiffen wohnen und kann leichter abgeschoben werden. Gibt ein Flüchtling an, er sei unter 16, wird das von den Sachbearbeitern meist angezweifelt und ein ärztliches Gutachten angefordert.

Dafür waren Wiethold und seine Kollegen zuständig. „Wir haben gleich gesagt, dass es sich immer nur um eine Altersschätzung ohne 100-prozentige Sicherheit handeln kann“, sagt der Mediziner. So schickte ihm die Behörde innerhalb von zwei Jahren gut 200 Menschen in die Praxis am Mittelweg, deren Alter er einschätzen sollte. Bei einem Jugendlichen, den er als unter 16 eingestuft hatte, ließ das Amt beim Rechtsmedizinischen Institut eine Gegenuntersuchung machen und kam zu einem anderen Ergebnis: Über 16. Daraufhin sammelte die Behörde mehrere Fälle, in denen Wiethold sein Kreuz auf dem Untersuchungsbericht ebenfalls bei „unter 16“ gemacht hatte und leitete Ermittlungen gegen ihn ein. „Eines Morgens stand plötzlich Polizei bei mir und wollte meine Praxis durchsuchen.“ Auch gegen mindestens einen weiteren Kollegen aus Altona, der in Zweifelsfällen ebenfalls zugunsten der Jugendlichen entschieden hatte, wurde ermittelt. „Die haben ohne Vorwarnung gleich knackig draufgehauen.“ Beide Verfahren wurden inzwischen eingestellt.

Als das ruchbar wurde, so Wiethold, haben sich auch die übrigen Ärzte, die noch die Untersuchungen im Dienst der Stadt ausführten, zurückgezogen, nicht nur aus Terminnot, wie die Behörde anführt. Und erst recht nicht deswegen, weil es zu Bedrohungen der Ärzte durch die Jugendlichen gekommen sei, wie Behördensprecher Norbert Smekal behauptet. „Mir ist von Fällen von Widerstand überhaupt nichts bekannt“, sagt Wiethold.

So bleibt es dabei, dass zurzeit nur noch die UKE-Rechtsmedizin die Untersuchungen durchführt – gewöhnlich mit dem Ergebnis: Über 16. Das Institut setzt auf die Methode der Altersfeststellung durch Mundöffnen: Je nachdem, ob und wie weit die Weisheitszähne vorhanden sind, wird das Alter bestimmt. Für Wiethold ein Verfahren, das „von der Fachliteratur als längst überholt“ gelte: „Darin sind sich alle seriösen Menschen einig, dass das Alter durch den Zahnstand allein nicht schätzbar ist. Das mag für weiße Mitteleuropäer gelten, aber nicht für Menschen, die aus ganz anderen Kulturen kommen.“