Glotzt nicht so romantisch!

■ Büchners „Leonce und Lena“ in einer experimentierfreudigen Inszenierung in Bremerhaven

Die Bühne ist in blaues Licht gehüllt, blau nicht aus dem Geist der Romantik, sondern blau vom Fernsehlicht. Das Gerät steht in der Mitte auf einem fahrbaren Wagen, daneben eine Videokamera, die auf ein kleines Schild zeigt: „Popo“ ist groß auf dem Bildschirm zu lesen. Popo, der Name des winzigen Königreichs in Georg Büchners Lustspiel „Leonce und Lena“, ein Ministaat, den König Peter mit dem Ministaat Pipi verkuppeln will.

Büchner erzählt von zwei Königskindern, die – ohne sich zu kennen, aus Staatsräson – zur Heirat gezwungen werden, die vor ihrer Bestimmung weglaufen, sich in der Fremde zufällig in die Arme rennen und auf diesem Weg zum Paar werden, zum neuen Königspaar. Alles, wie geplant. Ein rätselhaftes Spiel, ein Alp-Traumspiel, in dem die Grundstimmung, so der leidenschaftliche Büchner-Exeget Hans Mayer, nicht heiter lächelnder Spott, sondern Haß und Verzweiflung sei.

In einer ebenso verspielten wie klug durchdachten und experimentierfreudigen Inszenierung taucht Regisseur Titus Georgi Büchners Verzweiflung über die „unabwendbare Gewalt in den menschlichen Verhältnissen“ in die Farben und Töne der Gegenwart: Es ist erstaunlich, dass die Sprache des 23-Jährigen Rebells, der als politischer Flüchtling in Straßburg lebte, keine Übersetzung, keine modische Erneuerung nötig hat. Wenn Leonce den Höfling seines Vaters (hier eine Frau, präzise in Slapstickmanier gespielt von Hella-Birgit Mascus) mit einer Hymne auf Müßiggang und Langeweile nervt, dann könnte das in denselben Worten ein kiffender Jüngling von heute sagen: „Die Menschen verlieben, verheiraten und vermehren sich aus Langeweile und sterben endlich aus Langeweile.“

Georgi nimmt seinen Königskindern noch das Letzte, was sie in Büchners Worten besitzen: die Wunde und den Schmerz über die Langeweile des Lebens. In einer von Medien umstellten und gespiegelten Gesellschaft ist jedes Wort von vornherein Lüge, hohle Phrase. Ulrich Gall als Leonce macht sichtbar, was von der schmerzhaften Melancholie des jungen Prinzen übrigbleibt: Fahrig, hektisch, unruhig, mit einer unterschwelligen Aggressivität und Verachtung, stellt er einen Lebensekel aus, in dem die schönen Worte zu billigem Spielgeld verkommen.

In der grausamsten Szene des Stücks fordert Leonce seine Konkubine Rosetta (Isabella Wolf) auf, für ihn zu tanzen. Während sie sich aus verzweifelter Liebe in vergeblichen Verrenkungen übt, blickt ein gelangweilter Leonce starr auf den Fernsehschirm, auf dem ihm die Kamera alles überträgt. Hier ist jede Kommunikation zu Ende.

Und Lena, die Prinzessin? Georgi lässt Heike Eulitz als handfeste, kräftige Göre auftreten, die ihre Gouvernante (Hella-Birgit Mascus mit langer Nase) schon mal auf dem Rücken schleppt, und nach Leibeskräften schreit, als ihr der Hochzeitsschleier angelegt werden soll. Da ist nichts übrig von der traumwandlerischen Zartheit der Büchnerschen Figur, keine Spur von der todessüchtigen Romantikerin. Wenn Lena über Leonce sagt: „Es gibt Menschen, die unglücklich sind, unheilbar“, dann spricht sie das beiläufig beim abendlichen Zähneputzen, hinter der Bühne und vor der Kamera, für uns auf dem Fernsehschirm sichtbar. Eine beliebige Sentenz, Falschgeld auch hier, wie bei Leonce. „Glotzt nicht so romantisch!“ scheint Georgi immer wieder mit Meister Brecht sagen zu wollen. Überdeutlich – und überlang - in jener Szene, in der Leonce mit dem Freund und Hofnarren Valerio auf der Flucht nach Italien ist: Die leise Abendstimmung wird mit Helium ausgetrieben, das Ulrich Gall und Andre Bolouri aus großen Luftballons zu sich nehmen, um ihre Stimmen dünn und scharf zu machen, die Reise findet nur noch als Kinderspiel statt.

In der alles durchdringenden Kälte der Georgi-Inszenierung scheint es diese Form der Rettung in die Ironie nicht mehr zu geben. Wenn Prinz und Prinzessin am Ende die Masken abnehmen, entdecken sie, dass sie betrogen worden sind, aber fühlen sie dabei noch irgendetwas? König Peter, den Bernd Stichler wunderbar diskret und komisch als eigensinnigen Kauz darstellt, hat anders als im Original das letzte Wort: „Ich bin ich“.

Der Traum vom Einzelnen, vom göttergleichen Individuum, ist ausgeträumt. So wird Georg Büchner zum frühen Kronzeugen einer Entwicklung, deren jüngster Prophet, Michel Houellebecq, in eingeschobenen Zwischentexten und im Programmheft zu Wort kommt.

Nur einmal reißt Georgi ein winziges Loch in diese aussichtslose Welt: Wenn sich Lena und Leonce zum Kuss begegnen und die Nachtstunde mit massigen Filmwolken angezeigt wird. Ausgerechnet im größten Kitsch steckt ein Rest von allerletzter Wärme. Hans Happel

Weitere Vorstellungen im Dezember: 11., 15., 20., 22. und 27.12.