eine rakete im vorgarten
:

von RALF SOTSCHECK

Mikey geht gern fischen. Er hat es nicht weit bis zum Meer, denn er lebt in Ballyvaughan an der irischen Westküste. Neulich war er wieder mal an der Bucht und schaute nach den nassen Tieren. Sein Freund Billy hatte schon ein paar Prachtexemplare aus dem Meer geholt, als Mikey ein schwarzes, an den Enden abgerundetes Objekt im Wasser entdeckte. Ein Delfin? Oder doch nur ein Baumstamm? Aber sind die an beiden Enden abgerundet? Aufgrund der einsetzenden Dunkelheit war nichts zu erkennen.

Billy beschloss, das Ding aus dem Wasser zu ziehen. Es war sehr schwer, er konnte es kaum anheben. Mikey, dem inzwischen ein Licht aufgegangen war, meinte: „Ich würde das an deiner Stelle nicht anfassen. Es könnte dich bis nach Dublin blasen.“ Am nächsten Tag war das Objekt ans Ufer gespült worden. An einem Ende war es mit einem abgerundeten Bolzen versiegelt, am anderen mit einer Messingschnalle. Mikey fand, dass es aussah wie ein Torpedo, und verständigte den Dorfpolizisten. Der fand auch, dass es wie ein Torpedo aussah, doch seine übergeordnete Dienststelle befahl ihm, er müsse erst mal ein Foto machen.

Kaum war das Foto beim Oberpolizisten angekommen, da schickte er zehn Mann aus Cork im Süden Irlands nach Ballyvaughan: ein Bombenentschärfungsteam. Die Experten bauten ein grünes Zelt um das verdächtige Objekt und injizierten eine Flüssigkeit. Mit Auskünften hielten sie sich zurück. Einer sagte lediglich: „Es ist eine Rakete. Wenn ein Schiff dagegen gefahren wäre, gäbe es dieses Schiff nicht mehr.“

Das passiert öfter in irischen Gewässern. Vor ein paar Jahren verschwand ein Fischerboot vor der Küste Donegals im Nordwesten. Die sechs Mann Besatzung wurden nie gefunden, und auch vom Schiff gab es keine Spur. Es heißt, ein U-Boot habe sich im Netz verfangen und das Fischerboot hinabgezogen. Aber dann wären irgendwann Teile davon aufgetaucht. Wahrscheinlich ist es von einem Torpedo getroffen worden, glaubt Mikey. Das Meer um Irland ist ein Friedhof für Atom-U-Boote, vor allem russische. Die halbe Flotte liegt vermutlich auf dem Grund vor Irlands Küsten.

Das Bombenentschärfer aus Cork ließen die Rakete am Strand liegen, nachdem sie entschärft war. Wahrscheinlich hatten sie von Kevin gehört. Der sammelt alles, was aus dem Meer angespült wird, sein Garten ist voller interessanter Stücke, vom Walskelett bis hin zu mittelgroßen Findlingen. Einmal hätte ihn sein Sammlertrieb fast das Leben gekostet: Er wollte einen großen Stein auf seinen Traktor ziehen, doch die Klamotte war weit größer, als er dachte. In seinem Eifer geriet er irgendwie unter den Stein, so dass er sich nicht mehr rühren konnte. Zum Glück hatte er sein Handy dabei, sonst hätten die Erben sein Skelett neben den Walgräten aufbauen können.

Gelernt hat er daraus freilich nichts. Kevin holte wieder seinen Traktor und zerrte die Rakete auf den Anhänger. Nun steht sie in seinem Vorgarten und rostet vor sich hin. Aus der Öffnung, die das Bombenteam gebohrt hat, suppt irgendeine Flüssigkeit heraus. Besuch bekommt Kevin nur noch selten.