Sitzplatz zur Rechten der Bildachse

Sie platziert ihre SprecherInnen zwar immer noch hartnäckig auf derselben Hälfte der Mattscheibe. Doch die biedere Seriosität von Köpcke & Co. ist hin, dafür häufen sich die Stammel- und Stummelsätze: Ein Selbstversuch über 20 Jahre „Tagesschau“

Gerhard Schröder wurde auch Fernsehkanzler, weil das Fernsehen einen solchen brauchte

von HARALD KELLER

Bei halbherzigem Hinschauen entsteht vielleicht der Eindruck, binnen 20 Jahren habe sich nicht viel geändert. Der Kanzler wird von der SPD gestellt; im Einklang mit seinem Wirtschaftsminister mahnt er die Tarifparteien zur Besonnenheit. Aus dem Nahen Osten werden Bombenattentate gemeldet. Dennoch kündet die „Tagesschau“ vom 30. 11. 1981 von einer ganz anderen Welt. Gerade 20 Jahre ist es her und wirkt doch sehr befremdlich – der Kanzler hieß Schmidt, Deutschland war noch säuberlich geteilt, und wenn TV-Korrespondenten von „Russland“ sprachen, dann meinten sie die unter den Zeichen von Hammer und Sichel vereinte, wenngleich schon rostrot gewordene Sowjetunion.

Die damalige Optik der dienstältesten deutschen Nachrichtensendung erleichtert die zeitliche Zuordnung. Noch verlas Karl-Heinz Köpcke die Hauptabendnachrichten. Man kannte ihn, eine Namenseinblendung, heute obligat, unterblieb. Obgleich nicht weniger als ein Star, von vielen Damen angehimmelt und noch Ende der 60er von Teilen des Publikums als offizieller Regierungssprecher angesehen, macht er sich doch klein unter dem Gewicht hochpolitischer Meldungen. Bescheiden rückt er an den Bildschirmrand rechts außen und versteckt sich hinterm gelben Blatt, von dem er mit monotoner Stimme abliest. Die links platzierten Grafiken oder Politikerporträts, die Köpfe Helmut Schmidts und des Grafen Lambsdorff beispielsweise, überragen ihn und wecken Befürchtungen, sie könnten ihn im Falle eines Falles erschlagen. Und man meint Köpcke weiter schrumpfen zu sehen, wenn der gesamte Hintergrund mit Landkarten in den damals üblichen Pastellfarben ausgefüllt ist, denen bisweilen kryptische Textbalken beigegeben sind. „Vor Treffen“ steht auf einer dieser lindgelben Planken, die zuoberst einer Karte der siamesischen Zwillinge BRD/DDR brettbreit überm südlichen Skandinavien angebracht wurde.

Diese heute sonderlich anmutende Gestaltung folgte dem damaligen Verständnis einer Nachrichtenpräsentation: der Sprecher hatte als streng neutrale Instanz hinter der nicht nur im Bild dominierenden Nachricht zurückzustehen; jede persönliche Regung wäre als arger Fauxpas aufgefasst worden.

Susanne Daubner, die am 30. November dieses Jahres die Abendnachrichten verliest, rückt dem Zuschauer um einiges näher. Auch sie sitzt, wie weiland Köpcke, zur Rechten der Bildachse, nimmt aber beinahe die Hälfte der Mattscheibe ein. Links im Hintergrund türmen sich Grafiken und Schriftzüge, obenan immer das Markenzeichen „Tagesschau“ mit dem aktuellen Datum, darunter Stichworte zum angesprochenen Thema und eine Illustration. Das Gesamtbild mit der Betonung der Farbe Blau zitiert den Internet-Auftritt des ersten Programms. Oder umgekehrt. Je nach Perspektive. Auch Daubner liest vom Blatt, lässt es aber flach auf dem Pult liegen. Als gestalterisches Element hat es ebenso ausgedient wie als Indikator für Seriosität.

Nicht nur die Sprecher rücken deutlicher in den Vordergrund, auch in den Filmbeiträgen ist der Personenbezug stärker als früher. Kommen in den zwanzig Jahre alten „Tagesschau“-Ausgaben noch regelmäßig so genannte Hinterbänkler und andere randläufige Amts- und Mandatsträger in kaum mehr gewohnter Ausführlichkeit zu Wort, richten sich die Objektive in der Gegenwart vorrangig auf allseits bekannte Köpfe, denen statt umständlicher Erklärungen griffige Slogans abverlangt werden. Wiewohl die Politprominenz mittlerweile die Maschen der Medien erfasst und entsprechende Reflexe entwickelt hat – Gerhard Schröder wurde auch Fernsehkanzler, weil das Fernsehen einen solchen brauchte –, wird kaum einer mit vollständigen Sätzen zitiert.

Wer sich noch Zeit zum Atmen nimmt, hat verloren, denn er bietet eine Gelegenheit zum Schnitt. Lieber kernig als sinnig, lautet die Devise der O-Ton-Jäger. Ein sachlicher Zusammenhang lässt sich kaum noch ausmachen, wenn in einem Beitrag über den Haushaltsentwurf 2002 Friedrich Merz in die Kamera quengelt: „Es wäre nötig jetzt und auch noch möglich, den Arbeitsmarkt zu öffnen. Frische Luft auf den Arbeitsmarkt statt dem Mief der Hinterzimmer der Funktionäre . . .“

Die Sprache der Politiker hat sich erkennbar verändert, die der Berichterstatter nicht minder – die Syntax nimmt bisweilen kuriose Formen an. Stammel- und Stummelsätze häufen sich, Adjektive, auch Verben und Artikel sind verzichtbar geworden. Da darf man sich halt nicht beklagen, wenn das Jungvolk diesseits der Mattscheibe ebenfalls nur noch in Halbsätzen spricht.

So wie ein flotterer Tonfall Eingang gefunden hat in die „Tagesschau“, gibt es auch öfter als früher „weiche“ beziehungsweise „bunte“ Nachrichten aus den Bereichen Sport, Showbusiness, Mode. Die Sendung vom 30. 11. endete mit Filmbeiträgen zur Eröffnung des Christkindlesmarkt in Nürnberg und zum Tod George Harrisons. Zu Köpckes Zeiten – der wie alle „Tagesschau“-Sprecher bis heute allerdings nie über die Nachrichtenauswahl oder Präsentation entscheidet – wäre dergleichen in die Kurzmeldungen gewandert. Wenn überhaupt . . .

Design, Requisiten, Sprecher – auch Nachrichtensendungen folgen einer Inszenierung. Aber davon ist nur selten die Rede, wenn über die Qualität von TV-Nachrichten diskutiert wird. Dabei kommt der Präsentation maßgebliche Bedeutung zu. Der reine Wortlaut ist – wissenschaftliche Studien haben längst bestätigt, was viele an sich selber beobachten – kurz nach dem Wetterbericht bereits wieder vergessen. Klug gewählte Illustrationen und Filmbilder helfen dem Gedächtnis und wirken verständnisfördernd. Optimal wäre eine knappe Zusammenfassung zumindest der wichtigsten Nachrichten gegen Ende der Sendung. Aber dazu müsste die Sendezeit der „Tagesschau“ wohl verlängert werden.

Übrigens: Mehr als Schlagzeilen und ein paar Originaltöne sind von Fernsehnachrichten ohnehin nicht zu erwarten. Wer am Supermarktregal mal eben die Titelseiten der Tagespresse liest, konsumiert ein Mehrfaches der Textmenge, die in einer 15-minütigen Ausgabe der „Tagesschau“ geboten wird.

„Tagesschau“-Wiederholungen: N3, täglich um 6.45 Uhr