Revolution frisst ihre Kinder

Euripides' „Medea“ am Thalia Gaußstraße  ■ Von Petra Schellen

Man ist nicht nur Ausländer per Herkunft. Man kann auch fremd sein durch Gefühle, deren Intensität einen von der Restwelt trennt. Beides prägt Medea, Hauptfigur von Euripides' 431 v. Chr. verfasstem gleichnamigem Drama, das Andreas Kriegenburg jetzt am Thalia in der Gaußstraße inszeniert hat. Es ist die zweite Hälfte eines Doppelprojekts, das im November mit Sophokles' 413 v. Chr. verfasster Elektra (Regie: Dimiter Gotscheff) begann und im selben Kriegenburgschen Bühnenbild spielt. „Es ist eine Herausforderung, in einem Bühnenbild zu inszenieren, das eine Biographie hat“, sagt der Regisseur.

Doch die Sorge ist unbegründet: Deutlich zeigt sich in Medea die Emanzipation der Figuren, die Euripides seinerzeit den Vorwurf der „Gottlosigkeit“ eintrug. Denn nicht aus dem Götterwillen, wie noch Elektra, sondern aus ihren verletzten Gefühlen bezieht Medea (intensiv: Judith Hofmann) ihre Racherechtfertigung: Half sie nicht einst Jason bei der Eroberung des Goldenen Vlieses und flüchtete mit ihm in die Fremde? Doch Undank folgte: Mit der Tochter des Korintherkönigs Kreon verheiratete sich Jason, verstieß Medea, um sich und den gemeinsamen Kindern ein Auskommen zu sichern, wie er behauptet. Eine dürre Rationalisierung der Tatsache, dass er opportunistisch neue Freunde suchte. Hass entwickelt daraufhin Medea, die wieder fliehen soll und die brutalste Lösung beschließt: Jasons neue Braut und die eigenen Kinder zu töten, um den Ex-Geliebten zu strafen.

„Ich persönlich kenne keine Rachegefühle“, sagt Kriegenburg. Dies ist auch Judith Hofmanns Ansatz: „Ich bin Medea“, sagt sie. „Ich werde meine Kinder töten.“ Direkt danach: „Ich bin Judith Hofmann. Ich bin schwanger. Ich werde mein Kind nicht töten.“ Fast klingt es, als wolle sie sichergehen, dass der Embryo nicht persönlich nimmt, was folgt. Ein gelungener Versuch, die Biographie von Figur und Darstellerin zu verweben und die Absurdität totaler Einfühlung aufzuzeigen. Ein kippschalter-artiges Experiment, an das sich der Regisseur leider nur an wenigen Stellen wagt. Kurz nur blitzt die Nicht-Unterscheidbarkeit der Rollenidentitäten auf und damit die Frage, ob Theater nicht teils authentischer ist als die so genannte Realität.

Für Jason (Helmut Mooshammer) allerdings stellt sich diese Frage nicht: Er schwächelt konsequent, wirft Stühle, pöbelt, säuft und begehrt Medea – aber immer nur kurzfristig. „Die beiden Figuren lieben und hassen sich gleichzeitig intensiv“, betont Kriegenburg. Doch die Inszenierung lässt davon wenig spüren: Zu wetterwendig gibt sich Jason. Oder ist auch diese Facette nur Spiel im Spiel?

Und kann man die Marionette Kreon (erstklassig: Markwart Müller-Elmau) überhaupt ernst nehmen? Den lallenden Greis, der sich im Slapstick selbst übertrifft? Und den Kriegenburg blitzschnell auf einen „rechtschaffenen Politiker unserer Tage“ herunterbricht? Denn mehr als „Ich habe Angst vor dir“ und „Jeder würde das tun“ äußert Kreon nicht als Begründung für die Ausweisung der Ausländerin (Asylbewerberin?) Medea.

Kraftlos ist seine Argumentation, nicht halb so stark wie Medeas Rachegefühle, und deshalb schafft sie ihn. Ringt ihm noch einen Tag Aufenthalt in seinem Land ab. Denn letztlich sind ihr beide Männer unterlegen. Auch sich selbst ist sie kaum gewachsen beim Versuch, ihre Gefühle zum Hass zu bündeln, kenntlich gemacht durch die Weißtünchung Medeas und sämtlicher abweichender Identitätspartikel.

Der Wiederherstellung ihrer eigenen Würde will sie fortan ihr Leben widmen und gleitet doch nur ab in die Zerstörung anderer. Eine sich verselbständigende Ideologie ist letztlich Thema der Inszenierung. Und die Genese eines irgendwann gefassten Beschlusses, ein Atom Welt zu ändern – egal, ob der Auslöser noch existiert. Im Grunde ist Medea einer Revolutionärin vergleichbar, die ihre eigenen Kinder tötet, weil sie sich im selbst gestrickten Hass verfing. Ihre Aggression für sich zu behalten wäre eine Option gewesen, die ihr auch das Harlekin-Pärchen (Victoria Trauttmansdorff/Hans Löw) immer wieder anbietet.

Aber sie will nicht, der vergangene Beschluss blockiert die Umkehr. Der Hass auf Fakten leitet Medea, die Wut auf das Unumkehrbare, dessen Fortgang sie wenigstens stoppen will, indem sie einzelne Mosaiksteinchen des neuen Jasonschen Familienmusters und -glücks herausnimmt. Dekonstruktion, nicht Konstruktion ist das Ziel von Text und Inszenierung. Denn als schließlich fast alle tot sind – die Braut, Kreon, die Kinder –, kommt Jason gebrochen zu Medea und will die Söhne bestatten. Und wieder erliegt sie der Versuchung, Härte zu beweisen: „Nein“, sagt sie. Löscht das Licht und geht.

nächste Vorstellungen: 28., 29.12., 20 Uhr, Thalia Gaußstraße 190