Jugend, o Jugend, forsch

Fremde Welt der jungen Menschen: Attentäter mit dem Schulranzen auf dem Rücken

Der 11. September war der Tag des jähen Abschieds vom Jugendwahn. Was für ein Tag!

„Du musst dein Leben ändern.“ Rainer Maria Rilke

Bis zum 11. 9. dieses Jahres nahm das Leben seinen gewohnt niederziehenden Verlauf. Auch in den Tagen und Wochen danach geschah kaum Nennenswertes. Ein Blick aufs Konto zeigte dir deutlich, dass nichts sich geändert hatte. Der lang ersehnte Triumph im Renommierbetrieb ließ nach wie vor auf sich warten, der längst fällige Reinfall aber auch. Das war jedoch nicht weiter schlimm, denn du fühltest dich jung und sahst dich trotz einer im Laufe der Jahre bereits erworbenen – äh – Schmerbäuchigkeit immer noch als frische Kraft, als Neuling, als Beginner, dessen Karriere ihre ersten Sternstunden noch vor sich hatte. Klar, als Wunderkind würdest du nicht mehr durchgehen können, eher schon, wenn du dich beeiltest, als Wunder-Mittdreißiger. Mit Verwunderung und Geringschätzung registriertest du daher den Erfolg der Jüngeren – Fußballprofis, Schauspieler oder Literaten –, dem etwas Fadenscheiniges anhaftete. Nein, diese Kurzzeitheroen konnten dich nicht wirklich beeindrucken.

So lief der Laden, bis zum 11. 9. Und so hätte er noch eine gute Weile weiterlaufen können – oder auch nicht. Im Nachhinein wird dir klar, dass du schon seit längerem bei spontanen Begegnungen mit dem nachrückenden Nachwuchs einen onkelhaften, Rundumreife signalisierenden Tonfall angeschlagen hattest. Wendungen wie „die jungen Leute“, „zu meiner Zeit“ oder „Hörner abstoßen“ hatten sich Zugang zu deinem Vokabular verschafft. Spöttische Blicke trafen dich, wenn du mit einer 18-Jährigen im Arm irgendwo aufkreuztest. War es nicht so? Aber du wolltest es nicht wahrhaben. Du wolltest es überspielen.

Dann kam der Tag, an dem du die Zeitung aufschlugst und der Konterfeis der mutmaßlichen Attentäter ansichtig wurdest, ihre sämtlichen Vor- und Zu- und Zwischennamen, Herkunftsländer zur Kenntnis nahmst und – ihre Geburtsdaten. Der Tag, an dem du, vielleicht zum ersten Mal im Leben, aus der Zeitung etwas erfuhrst. Der Tag des jähen Abschieds vom Jugendwahn, der peinvollen Erkenntnis deiner Selbstverblendung, der brutalen Bestandsaufnahme der real existierenden Realität. Was für ein Tag!

Der älteste dieser „Gottesflieger“, Atta, war Jahrgang 68, also noch jünger als deine kleinste Schwester. Was hatte er überhaupt ohne Elternbegleitung im Flugzeug zu suchen? Al-Schehhi, der eine Boeing an den Südturm des World Trade Centers steuerte, war 1978 geboren – in dem Jahr, wo du bereits alle Hände voll damit zu tun hattest, die Raucherecke auf dem Schulhof von zudringlichen Achtklässlern freizuhalten. Und der jüngste, al-Hamsi, kam 1981 zur Welt, er hat das Flugzeug offenbar noch mit dem Schulranzen auf dem Rücken bestiegen.

Der Rest der Truppe ist um die Mitte der Siebzigerjahre geboren – ach, du meine Güte. Diese Kiddies lösen mal eben einen dritten Weltkrieg aus, nur weil sie unbeaufsichtigt durch die Gegend reisen und nicht wissen, wie man sich im Flugzeug zu benehmen hat! Dabei wäre gerade das sehr einfach. Es genügte völlig, wenn diese Fittis ihre Schuhspitzen studierten und ansonsten, ja, verhalten atmen. Ein Flugzeug entführen – das können sie sich gleich aus dem Kopf schlagen. Das kommt überhaupt nicht in Frage. Das wäre ja noch schöner.

Da kannst du jeden fragen, Eltern, Patenonkel, Lehrer, sie werden dir Recht geben. Sie werden den Kopf schütteln. Und sie werden mit den Schultern zucken.

Und du? Wie stehst du nun da? Wie siehst du nun aus? Und was willst du nun machen? Es wird wohl nicht genügen, in den Alibert zu stieren. Du musst dein ganzes Leben revidieren.

RAYK WIELAND