Das Märchen vom Vorlesen

Peggy Pohl ist professionelle Märchenleserin. Eigentlich wollte sie sich anspruchsvoller Literatur widmen. Doch Märchen sind stärker gefragt. Vor allem in den weihnachtlichen Erzählmonaten

von BETTINA FICHTNER

Es war einmal ein kleines Mädchen. Das war sehr unglücklich. Denn es lebte in einem grauem Land, in dem die Gesichter der Menschen so kohlegrau wie die Häuserfassaden waren. Für das Mädchen gab es nur einen einzigen Ort der Freude: Fantasien. Ganz besonders liebte es die Bücher von Liselotte Welskopf-Hennrich. Denn die stolzen und gerechten Helden ihrer Indianergeschichten schienen dem Mädchen echter und glaubhafter als die vergreisten Herrscher in ihrem eigenen Land.

Im rot-goldenen Märchenmantel aus edlem Satin schnattert Peggy Pohl vor Kälte: „Brrrrrr“, macht die Geschichtenerzählerin mit dem dunklen langen Haar und reibt sich plakativ die Oberarme. „Brrrr“ entfährt es fast zeitgleich einem guten Dutzend Kindermünder und ein herzerweichendes Bibbern geht durch den Raum. Zwar ist es in der Taufkapelle der Christuskirche in Oberschöneweide nicht gerade warm, doch das demonstrative Frieren, bei dem sich auch die sonst eher zurückhaltenden Erwachsenen fröstelnd die Hände reiben, hat einen rein fiktiven Hintergrund: Soeben hat Peggy Pohl im Märchen von den „verwunschenen Prinzessinnen“ die Königin mit dem Herz aus Eis erwähnt und das verlangt ein kollektives „Brrrrr“.

Später entdeckte das Mädchen die Werke der Weltliteratur. In den Büchern von Kerouac, Bukowski und Hesse begegnete das Mädchen dem Traum von Freiheit und Boheme, der es nicht mehr losließ, denn in ihrer Heimat waren die Ideale längst zu Dogmen erstarrt. So war die junge Frau nicht traurig, als die Eltern beschlossen, im gelobten Land des Westens nach ihrem Glück zu suchen.

Ob russische, orientalische, kulinarische oder Frauenmärchen – seit Peggy Pohl vor zwei Jahren mit dem professionellen Lesen und Erzählen begonnen hat, ist sie zur Märchenexpertin avanciert. „Dabei waren die Märchen eigentlich nur zum Broterwerb gedacht“, gesteht die ausgebildete Tänzerin und Schauspielerin. Ursprünglich habe sie eher an „anspruchsvolle Literatur“ für Erwachsene gedacht, doch die Märchen seien einfach gefragter gewesen. Zumal zur Weihnachtszeit. Im November und Dezember, den „Erzählmonaten“, wie es die 36-Jährige nennt, gebe es die meisten Engagements. Dann erzählt oder liest die gebürtige Dresdnerin in Altenheimen, Krankenhäusern, in Gefängnissen oder, wie in Oberschöneweide, auf den Weihnachtsbasaren der Gemeinden. Und kann anders als im übrigen Jahr vom Märchenerzählen leben.

Doch bis der Wunsch der Eltern in Erfüllung ging, zog noch fast ein Jahr ins Land. Und die junge Frau durfte nicht mehr zur Schule, denn so war es Brauch in dem grauen Reich. Doch als Schreiberin eines Pfarramts in ihrer Heimatstadt Dresden kam sie in Kontakt mit Menschen, die sie bisher nur aus ihren Büchern kannte. Künstler und Aussteiger, die das bunte Leben liebten.

Nachdem die verwunschenen Prinzessinnen erlöst und mit den passenden Prinzen verkuppelt sind, kündigt Pohl ein „sehr trauriges“ Märchen an. Zur seelischen Stärkung verteilt sie die restlichen Spekulatius. „Kuschelt euch ganz eng an Mama und Papa“, rät sie noch vorsorglich und schon ist sie mittendrin in der Geschichte vom „kleinen Mädchen mit den Schwefelhölzern“. Mit ihrer Stimme malt die Profi-Erzählerin Bilder in die Kapellenluft. Als in der Geschichte dem erfrierenden Kind die tote Großmutter erscheint, ist es so still im Raum, dass man nur das leise Knacken der Kekse hört.

Als die junge Frau endlich in das Land hinter der Mauer zog, war die Enttäuschung groß. Im goldenen Westen gab es zwar Bücher in Hülle und Fülle. Aber kaum jemanden, mit dem sie ihre Träume teilen konnte. Statt Neil Young dröhnte Neue Deutsche Welle aus den Kassettenrekordern ihrer Schulkameraden. Und statt Hippymähne trug man Poppertolle. Auch in der Gemeinde, im Osten ihr Zufluchtsort, war im Westen alles anders. Statt Bob Dylan gab es nur fromme Gebete. Kurz, es war spießiger als bei den Eltern.

Geschichtenerzählen ist für Peggy Pohl ein „Gesamtkunstwerk“. Ein Auftritt dann gelungen, wenn das Publikum „mit allen Sinnen“ ins Märchenuniversum eintaucht. „Das geht am besten in einem passend dekorierten Raum“, weiß Pohl, die von einer Art Märchencafé „mit Kissen, bunten Tüchern und Tee aus dem Samowar“ träumt. Doch im Erzählalltag habe man es meist mit „furchtbar sterilen“ Orten zu tun. Dann hänge alles vom Vortrag ab. Wichtig sei nicht nur den Wortlaut, sondern auch die Gefühle, „die Geschichte hinter der Geschichte“, wie Pohl es nennt, zu transportieren. Deshalb klopfe sie beim Vorbereiten jedes Wort nach Hinweisen auf den „sozialen und emotionalen Kontext“ ab. Erst dann könne sie die Geschichte „visualisieren“. „Ich erzähle im Grunde die Bilder, die in meinem Kopf sind“, erklärt Pohl ihre Methode, „so kann ich die Geschichte miterleben.“

So flüchtete die junge Frau wieder in die Welt der Bücher und – das Abitur kaum in der Tasche – nach Paris. Dort wollte sie nah dran am wilden Leben ihrer Helden sein und wandelte auf den Spuren Simone de Beauvoirs – es sollte für lange Zeit die letzte Begegnung mit Fantasien sein. Erst als die graue Mauer schon lange gefallen und aus der jungen Frau eine Tänzerin in Berlin geworden war, fand sie zurück zur Traumwelt. Sie entschloss sich Schauspielerin zu werden. Kaum sprach die Tänzerin die ersten Texte, wusste sie auf einmal, was ihr all die Jahre gefehlt hatte: Geschichten und Figuren.

Die Märchenstunde ist wie im Flug vergangen. Die Kinder zappeln nervös auf den Stühlen. Es ist Zeit für die letzte Geschichte. Peggy Pohl verschränkt ihre Arme hinter dem Märchenmantel, macht den Rücken ein wenig krumm, beginnt auf und ab zu wandeln und erzählt mit getragener Stimme das Märchen von der kleinen alten Frau und dem kleinen alten Mann, die so gerne ein Weihnachtsfest feierten, wenn es nur jemanden gäbe, den sie einladen könnten. Das Publikum spitzt noch einmal die Ohren, lauscht der wohligen Stimme und klatscht vor Freude in die Hände, als die Alten doch noch Gäste bekommen, weil ein Dutzend Autos samt Weihnachtsbäcker an Heiligabend im Schnee stecken bleibt. Auch die Erzählerin lächelt – wenigstens im Märchen hat der Weihnachtsabend ein Happy End.