■ Wird Brandenburg „talibanisiert“ oder gibt es Bildungsnotstand in Sachen Religion? Reaktionen zum Religionskompromiss
: Zeichen unfreier Kirchlichkeit

betr.: „Kompromiss in einer Glaubensfrage“, „Die Schule wird modern“, taz vom 12. 12. 01

Für den konfessionellen Religionsunterricht lassen sich viele Argumente bringen: vom Grundgesetz angefangen über die Tatsache, dass dieser Unterricht faktisch immer mehr überkonfessionell erteilt wird, bis hin zu der Einsicht, dass Didaktik und Methodik dieses Faches meist nur wenig mit dumpfer klerikaler Indoktrination zu tun haben. Gebongt! Das gehört alles in die Klammer.

Das Vorzeichen aber vor der Klammer ist doch schlicht und ergreifend, dass die Kirchen ihren Fuß in der Tür behalten wollen. Man klammert sich an ein altes Privileg (grundgesetzlich verankert) – ja, meinetwegen mit Gründen. Ich finde dieses Klammern nur peinlich. Zeichen einer unfreien Kirchlichkeit. LER – jawohl. Und dort sollen als Gäste die verschiedenen Religionsvertreter (aber auch zum Beispiel die Humanistische Union) auftreten, ihre Religion und die damit verbundenen Werte darstellen.

Kirchlich verantworteter Unterricht hat in der Schule nichts zu suchen. VOLKER BAHRENBERG, evangelischer Pfarrer, Warstein

Mittlerweile hat der Bildungsnotstand in Sachen Religion auch die Kommentatoren der ersten Reihe erfasst. So behauptet Ralph Bollmann, das Hauptproblem des Religionsunterrichtes sei, „dass niemand etwas über die Religion des anderen lernt, wenn jeder sein eigenes Süppchen kocht“. Diese Behauptung entspricht wohl eher einer gut gepflegten Vorurteilsstruktur als der Realität.

Ein Blick in die Lehrpläne und Schulbücher zeigt, wie gründlich und seriös andere Religionen, Konfessionen und Weltanschauungen innerhalb des Religionsunterrichtes behandelt werden. Das Material ist anerkannt gut und wird auch von anderen Fachlehrern verwendet. Religionsgruppen suchen die Gotteshäuser der anderen Religionen auf. Substanzieller Bestandteil des Unterrichtes ist es, die gegenseitige Achtung des anderen durch das Verstehen seiner Position zu fördern. So leistet Religionsunterricht, was Herr Bollmann an diesem Fach kritisiert. PETER STORCK, Berlin

Kinder werden von ihren Eltern dazu angehalten, praktisch gezwungen, sich dem Diktat (Terror?) einer Ideologie, die ihr ganzes zukünftiges Leben negativ beeinträchtigen wird, zu unterwerfen (Versklavung). Und warum muss der Steuerzahler jene Personen, die diese Kinder derart „verbiegen“, auch noch dafür bezahlen? Ist jede Form von Religion nicht reine Privatangelegenheit?

Wenn jemand meint, sich unbedingt anderen Menschen oder Institutionen unterordnen zu müssen, kann er dies nicht in seiner Freizeit tun? Warum wird den Kindern so etwas zugemutet? Warum unterstützt man das Heranziehen von unfreien und untertänigen Menschen? Könnten die Kinder in dieser Zeit nicht Besseres für ihr Leben lernen? Sie könnten zum Beispiel Lesen und dasselbe auch zu verstehen lernen. Das hilft nämlich, und es macht frei. Aber vielleicht ist gerade dieses nicht gewollt! Stattdessen findet die Talibanisierung Brandenburgs statt. C. GROOT, Hamburg

Ich wurde in neun Jahren Gymnasium weit öfter mit anderen Weltanschauungen gequält (vom Islam über Buddhismus bis hin zu den Theorien, denen die „Nichtgläubigen“ angehören) als mit meinen eigenen Glaubensinhalten. Darüber hinaus füllte mein Religionsunterricht viele Lücken, die unser Schulsystem nicht mehr zu füllen bereit ist: Demokratie lernen und sich am Meinungsbildungsprozess in der Gesellschaft beteiligen, zum Beispiel im Bereich Ökologie (Bewahrung der Schöpfung) oder Drogenprävention. Auch Kreativität und Kommunikationsfähigkeit wurden in diesem Unterricht gefördert.

Der Religionsunterricht ist an unseren Schulen dringend notwendig. GEORG LITTY, evangelischer Theologe, Tübingen

Es würde mich doch einmal interessieren, zu welcher Generation Herr Bollmann gehört. Meine Generation, Jahrgang 43, hat sicher noch einen ideologischen Unterricht „genossen“. Ich unterrichte seit 30 Jahren Religion an verschiedenen Schulen. Ich habe mich dazu viel mit religiös-pädagogischen Zeitschriften beschäftigt, und ich gestehe, ich suche die Ideologie. Ich wundere mich, ob Herr Bollmann gerade bei der taz von den 70er-Jahren den friedenspolitischen Streit versäumt hat, dass es doch gerade die Kirchen waren, die hier und bei der Kernkraft „linke“ Positionen bezogen (oft gegen heftigen, durchaus offiziellen Widerstand).

Worum es in Brandenburg geht, ist wie in Bremen eher ein anderes Problem. Wenn der Religionsunterricht nicht mehr „ordentliches“ Schulfach ist, dann kann man ihn ja getrost an den Rand und in die Bedeutungslosigkeit verdrängen. Gerade im Religionsunterricht (und in Ethik) kommen durchaus verschiedene Religionen zu Wort. Herr Bollmann sollte dazu auch einmal Herrn Özdemir fragen! EKKEHARD PICHON, Pfarrer, Stuttgart

Die Annahme des BVG-Kompromissvorschlags zur außergerichtlichen Schlichtung im LER-Religionsunterrichts-Streit würde eine Aufwertung des Religionsunterrichts in Brandenburg bedeuten. Dabei sind sowohl der übliche Religionsunterricht wie auch – wenn auch in viel geringerem Maß – der LER-Unterricht verfassungs- und menschenrechtswidrig, da beide nur die religiösen Weltanschauungen zum Inhalt haben (das „R“ in LER bedeutet Religionskunde). Nicht religiöse Weltanschauungen werden in den Schulen überhaupt nicht berücksichtigt. Gerade nach den Terroranschlägen vom 11. 9. ist ein gemeinsamer (!) Unterricht aller Schüler – egal welcher Weltanschauung – wichtiger denn je, in dem Schüler zu multikulturellem Verständnis erzogen werden. Darum sollte das „R“ in „LER“ durch „W“ (Weltanschauungskunde) ausgetauscht werden und überall in Deutschland den bisherigen Religionsunterricht ablösen. REINER MOYSICH, Karlsruhe

Die Redaktion behält sich den Abdruck sowie das Kürzen von Briefen vor. Die erscheinenden LeserInnenbriefe geben nicht notwendigerweise die Meinung der taz wieder.