bettina gaus über Fernsehen
: Wenn Eltern zu Fanatikern werden

Jahresrückblick: Der Hintereingang ist manchmal ein zwingendes Gebot der Menschlichkeit – nicht nur in Belfast

Die aus meiner Sicht widerlichsten Fernsehbilder dieses Jahres gingen im September um die Welt. Gemeint sind nicht die Aufnahmen vom Terroranschlag auf das World Trade Center. Bei dem Ereignis, von dem hier die Rede ist, kam niemand zu Tode. Eigentlich ist gar nichts besonders Dramatisches passiert. Ein paar Schulkinder hatten Angst, ein paar Erwachsene zeigten blinden Hass. Ein Polizist wurde verletzt. Das war’s auch schon. Gemessen an dem, was sonst so in der Welt vorgeht, ist das also allenfalls eine Kurzmeldung.

Nämlich diese: In der nordirischen Stadt Belfast wurden über mehrere Tage hinweg katholische Schulanfängerinnen im Alter zwischen vier und sieben Jahren auf ihrem Schulweg, der durch protestantisches Wohngebiet führt, von einer aufgebrachten Menge beschimpft und mit Gegenständen beworfen. Einer dieser Gegenstände war ein Sprengsatz. Er verletzte einen der zahlreichen Polizisten, die in Kampfanzügen die Kinder auf ihrem Schulweg zu schützen versuchten.

Im Fernsehen waren weinende kleine Mädchen zu sehen, grimmig entschlossene Eltern und wütende Randalierer. Was in den Kindern vorging, kann man sich leicht vorstellen. Aber was um alles in der Welt ging in den Erwachsenen vor? Was bringt Leute dazu, Mädchen im Alter zwischen vier und sieben Jahren zu bespucken, als Abschaum und Tiere zu bezeichnen und mit Flaschen auf sie zu zielen? Welche Umstände können dazu führen, dass jemand es als Erfolg betrachtet, Kleinkinder zum Weinen zu bringen? Und was bewegt Eltern, ihre Töchter absichtsvoll einer derart abscheulichen Erfahrung auszusetzen?

Väter und Mütter von Kindern in diesem Alter haben neben der Befriedigung physischer Bedürfnisse ihres Nachwuchses vor allem eine Aufgabe: Grundvertrauen in eine oft als bedrohlich und manchmal auch als schrecklich empfundene Welt zu vermitteln. Diese Aufgabe erfüllen Eltern instinktiv – weltweit und ganz unabhängig von den realen Gegebenheiten. „Du musst keine Angst haben, es ist gleich vorbei“, sagen sie beim Kinderarzt und im Bombenhagel. „Alles wird wieder gut“, sagen sie nach der Ankunft im Flüchtlingslager und beim Anblick eines aufgeschlagenen Knies. Nein, es gibt wahrscheinlich keinen Krieg. Nein, unter dem Bett liegt ganz gewiss kein Krokodil.

Und dann nehmen Eltern, die diese oder ähnliche liebevolle Sätze auch hunderte von Malen gesagt haben dürften, ihre Töchter an der Hand und führen sie vorsätzlich an einem angriffslustigen Mob vorbei. Ich habe versucht mir vorzustellen, was die Familien in den letzten Minuten zu Hause besprochen haben mögen: „Deine Klassenlehrerin ist bestimmt nett.“ Oder: „Du findest sicher bald Freundinnen.“ Oder: „Geh in Deckung, wenn du siehst, dass jemand etwas in der Hand hat.“ Vielleicht haben manche Eltern ja auch gesagt: „Wenn du älter bist, zahlst du es ihnen heim.“

Es hätte einen anderen, gefahrlosen Weg gegeben. Er führt zum Hintereingang der Schule. Aber die meisten Eltern wollten diesen Weg nicht benutzen. Sie sagten, sie empfänden das als Sieg der Gewalt. Bei allem Respekt vor standfester Prinzipientreue: Ich kann mir keine Situation ausmalen, in der ich meiner Tochter absichtsvoll Vergleichbares zugemutet hätte. Der tiefe Frieden, der mich geprägt hat, lässt mir diesen Weg zum Hintereingang als zwingendes Gebot der Menschlichkeit erscheinen.

Ich weiß nicht, wie ich das sähe, wenn ich in einem Bürgerkriegsgebiet aufgewachsen wäre. In die Gefühle dieser nordirischen Eltern kann ich mich nicht hineinversetzen – und in die Gefühle derjenigen, die kleine Kinder bedrohen, schon gar nicht. Vermutlich sind jedoch auch all diese Leute keine Monster, und wir erblicken nicht (um einen modischen Ausdruck zu benutzen) „das Böse schlechthin“, wenn wir in ihre Gesichter schauen. Möglicherweise sehen wir dort allerdings, wie Terrorismus entstehen kann.

Die Eltern der Kinder und ihre Angreifer sind europäische Christen. In vieler Hinsicht leben sie unter ähnlichen Umständen wie wir. Trotzdem lässt ihre Lebenserfahrung ihnen ein Verhalten als angemessen erscheinen, das bei den meisten Glücklicheren in friedlichen Ländern fassungsloses Entsetzen und tiefe Ratlosigkeit auslöst. Wir verstehen nichts. Gar nichts. Aber zur Frage nach den Motiven palästinensischer Selbstmordattentäter und terroristischer Piloten kann diese Erkenntnis gewiss nicht beitragen. Bei denen liegt der Fall ja ganz anders. Sie handeln so, wie sie es tun, weil sie eine andere Mentalität haben als wir, eine andere Kultur, und weil sie außerdem einer bedrohlichen Religion anhängen. Warum sonst?

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